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Das Land hinter den Bergen

©2017 488 Seiten

Zusammenfassung

Die freudige Spannung einer bevorstehenden Geburt liegt über Hainrod. Das Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen zu dem jährlichen Treffen der umliegenden Gemeinschaften. Die Bewohner feiern zusammen und planen ihre neuen Vorhaben. In ihren Alltag tritt unvermittelt ein fremder Wanderer. Mit seinen Fragen und Vorstellungen weckt er das Interesse aber auch den Unmut mancher Dörfler. Seine Ankunft und sein weiteres Schicksal werden vor allem für den junge Vater Saibro zur persönlichen Herausforderung.

Matthias Zellmers Fantasy-Roman nimmt uns mit auf eine Reise zu Gesellschaften, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein überraschender Perspektivwechsel, der uns den Spiegel vorhält. »Das Land hinter den Bergen« liegt in einer anderen Welt und Zeit und ist uns dennoch sehr nah. Eine märchenhafte Utopie für Leserinnen und Leser jeden Alters.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kurzbeschreibung

Die freudige Spannung einer bevorstehenden Geburt liegt über Hainrod. Das Dorf steckt mitten in den Vorbereitungen zu dem jährlichen Treffen der umliegenden Gemeinschaften. Die Bewohner feiern zusammen und planen ihre neuen Vorhaben. In ihren Alltag tritt unvermittelt ein fremder Wanderer. Mit seinen Fragen und Vorstellungen weckt er das Interesse aber auch den Unmut mancher Dörfler. Seine Ankunft und sein weiteres Schicksal werden vor allem für den junge Vater Saibro zur persönlichen Herausforderung.


Matthias Zellmers Fantasy-Roman nimmt uns mit auf eine Reise zu Gesellschaften, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein überraschender Perspektivwechsel, der uns den Spiegel vorhält. »Das Land hinter den Bergen« liegt in einer anderen Welt und Zeit und ist uns dennoch sehr nah. Eine märchenhafte Utopie für Leserinnen und Leser jeden Alters.

Kapitel 1

An diesem schönen Frühsommertag herrschte in dem kleinen Dorf helle Aufregung. Man bekam Nachwuchs. Wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, zog es die Menschen von Hainrod immer wieder zur Hütte von Apaquia. Dort auf der Türschwelle saß die fünfzehnjährige Minxia und gab all den zufällig vorbeikommenden durch ein Kopfschütteln zu verstehen, dass es nach wie vor nicht so weit war.

Aus der Hütte kam hin und wieder Saibro – der werdende Vater. Jedes Mal stolperte er über Minxia, entschuldigte sich geistesabwesend und kramte unbeholfen ein neues Stück Tyggja-Rinde aus seiner Hosentasche. Er steckte sich die Rinde in den Mund, begann fahrig darauf herumzukauen und eilte dabei einige Male auf dem Weg vor Apaquias Hütte hin und her. Nach einer Weile spuckte er die zerkauten Reste der Rinde in den Graben und hastete zurück an das Bett seiner Liebsten. Natürlich nicht, ohne beim Betreten der Hütte erneut über die Beine von Minxia zu stolpern.


Die Geburt eines Babys war in Hainrod dank der Mittel der Geburtshelferin Muukja für die werdende Mutter üblicherweise keine besonders mühselige Angelegenheit. In den Tagen rund um den errechneten Geburtstermin verabreichte die erfahrene Heilerin der Schwangeren jeden Abend einen speziellen Trunk, der sie zum einen entspannte und zum anderen dafür sorgte, dass sich wenige Stunden bevor der Nachwuchs wirklich heraus wollte, ein extrem süßlicher Geschmack in ihrem Mund bildete. Dadurch wussten alle Beteiligten ziemlich sicher, ob es nun wirklich so weit war oder eben nicht.


Wie Saibro in der Zwischenzeit erfahren hatte, hatte sich an diesem Nachmittag bei Apaquia der verräterische Geschmack im Mund ausgebreitet. Sie war daraufhin zur Tür ihrer Hütte gegangen und hatte in der Nähe spielende Kinder herbeigerufen. Die Frau mit den ebenmäßigen Gesichtszügen beauftragte einen der Jungen damit, die alte Muukja zu rufen. Eines der Mädchen fragte, ob sie Saibro von der Baustelle am Backhaus holen solle? Aber Apaquia schüttelte nur ihren Kopf mit den langen kastanienbraunen Haaren. Ihr war wahrscheinlich klar, dass er es sowieso in Windeseile erfahren würde, wenn Muukja mit der großen Ledertasche und ihrer Urenkelin Minxia im Schlepptau durch das Dorf marschierte. Die Zeit bis die Geburtshelferin bei ihr auftauchte, nutzte Apaquia, um ihre Hütte aufzuräumen. Auch setzte sie Wasser für einen weiteren von Muukjas Tees auf. Dieser Tee aus Blüten ausgewählter Bachblumen war dazu gedacht, den Geburtsvorgang zu beschleunigen. Nebenbei diente er aber auch dazu, den furchtbar süßen Geschmack des vorherigen wieder loszuwerden.


Saibro kam soeben zum unzähligsten Mal in Apaquias Hütte hineingestolpert, als Muukja ihr eine frische Tasse von dem Blütentee reichte und beiläufig fragte: »Welchen Namen habt ihr euch für das Kleine ausgesucht?«

»Wenn es ein Junge wird, soll er Sydän heißen und ein Mädchen nennen wir Avolia«, antwortete die werdende Mutter sichtlich erschöpft.

»Das sind schöne Namen.« Muukja lächelte anerkennend. Sie schaute Apaquia in ihre dunkelbraunen Augen, tätschelte ihr die Hand und schickte sogleich die nächste Frage hinterher: »Und wer baut die Hütte von Sydän oder Avolia?«

Aus ihren gemeinsamen Vorgesprächen mit Muukja wusste Saibro genau, wozu diese ganze Fragerei diente: Erschöpft hatte sich Apaquia zwar mal wieder etwas hingelegt, durfte jetzt jedoch nicht einschlafen, denn dann würde sich das Kleine in ihrem Bauch auch wieder zur Ruhe begeben und sie müssten später mit der ganzen Prozedur wieder von vorne beginnen.

Apaquia atmete tief ein, weitete mühsam ihre Augen und straffte ihre Schultern, dann antwortete sie: »Saibro hat seine Schwester Koremna und …« Abrupt brach sie ab und krümmte sich zusammen. Mit einem langgezogenen Grunzen fasste sie sich an ihren Unterleib.

Eilig nahm Muukja Apaquia ihre Tasse ab, ging ans untere Ende des Betts und schlug die Decke zurück.


Als Saibro eine gute halbe Stunde später, mit einem an Minxia gerichtetem »’tschuldigung«, abermals von einer seiner nervösen Pausen zur Tür hineinkam, wurde er vom ersten Schrei seines Kindes begrüßt. Wie vom Donner gerührt, blieb der junge Vater an der Tür stehen; vor der Minxia zum ersten Mal an diesem Tag einem Passanten gelassen zunickte.

Muukja, die sich das Neugeborene soeben noch prüfend vor das Gesicht gehalten hatte, ging um das Bett herum und legte Apaquia ihr Kind mit den Worten auf die Brust: »Dann haben wir jetzt einen Sydän im Dorf.«

Daraufhin drehte sie sich zu Saibro und befahl diesem: »Mach endlich die Tür zu! Dann komm her und begrüß deinen Sohn.«


Stunden später – es war Abend geworden – machte Muukja sich wieder auf den Weg zurück zu ihrer Hütte am nördlichen Rand des Dorfes. Auf eindringlichen Wunsch von Apaquia, trug diesmal Saibro ihre schwere Ledertasche. Minixa trottete hinterher, denn sie hatten weitestgehend den gleichen Weg. Muukja sah so müde aus, wie sich Saibro fühlte, aber auch genauso zufrieden.

Auf dem Weg durch das Dorf mussten sie immer wieder dieselben neugierigen Fragen beantworten. Und so bestätigte Saibro mehrfach, dass er nun Vater eines gesunden Jungens sei und dass sie ihm den Namen Sydän gegeben hatten.

Muukja erklärte zwei Frauen, die auf dem Weg zum Dorfplatz waren: »Es ist an ihm dran, was an ihm dran sein sollte. Und es ist auch alles am rechten Fleck. Er ist ein ordentlicher Brocken. Der wird mal so groß und stark wie sein Vater.« Derart mit den wichtigsten Informationen versorgt, ließen sie die zur Ungeduld neigende Muukja schnell wieder ihres Weges ziehen.

Als sie an der Hütte von Knibbe dem Schmied vorbeikamen, erhoffte dieser sich anscheinend von Minxia weitere Auskünfte über das neuste Mitglied ihrer Gemeinschaft. Auf seine kräftigen Arme gelehnt, stand er am Fenster und rief sie zu sich. Minxia ließ ihn jedoch mit einem solch genervten Blick abblitzen, wie ihn nur Heranwachsende zu Wege bringen können und schlürfte mit ausdrucksloser Miene weiter hinter Saibro und ihrer Urgroßmutter her.


Wie Saibro später mit eigenen Augen sehen sollte, hatten einige im Dorf kurzerhand beschlossen, die neben dem Dorfplatz für die Sonnenwendfeier in einer Woche aufgeschichtete Holzpyramide zu Feier des Tages bereits heute zu entzünden. Andere hatten Fässer mit süßen Zoete- und herben Kruid-Saft herbeigeschafft und aus der Dorfküche wurden zahlreiche Leckereien herübergetragen. Die üblichen Verdächtigen hatten ihre Instrumente aus ihren Hütten geholt und wurden von ungeduldigen Tanzwilligen lauthals zum Spielen von fröhlichen Reigen aufgefordert. Dies taten sie auch bereitwillig, begleitet von überschwänglichem Jubel. Immer wieder riefen einige fröhlich »Sydän Sydän«. Mitten im dritten Stück kam ein Junge auf den Platz gestürmt und bedeutete den Musikanten und Musikantinnen wild gestikulierend, dass sie ihre Instrumente zum Schweigen bringen müssten. Nach einigen Dissonanzen und schrägen Tönen, hatten die Musizierenden ihre Instrumente verstummen lassen, sodass alle die dünne Stimme des Jungen hören konnten: »Da! Da kommen sie.« Er zeigte auf den Weg, der unter anderem auch in die Richtung von Apaquias Hütte führte.

Aus dem Dunkel des Weges traten zwei Gestalten ins Licht des Feuers. Nach wenigen Augenblicken sahen alle, dass es in Wahrheit sogar drei waren, die dort langsamen Schrittes zu ihnen auf den Dorfplatz kamen. Die noch schwach, aber glücklich wirkende Apaquia hatte sich bei dem eineinhalb Köpfe größeren Saibro untergehakt, welcher auf dem anderen Arm den kleinen Sydän trug. Statt jedoch kollektiv loszujubeln, wie es ihnen ihre Herzen gewiss befahlen, blieben die Menschen auf dem Dorfplatz gespenstig still. Als die drei Neuankömmlinge in ihrer Mitte angelangt waren, begannen die Umstehenden zu summen. Es war ein monotones Surren, welches abwechselnd lauter und leiser wurde. Dabei drehte sich das Elternpaar mit ihrem Kind einige Male langsam im Kreis, sodass alle einen Blick auf Sydän werfen konnten.

Nach einigen Drehungen hob Apaquia ihre schmalgliedrige Hand und sofort wurde es mucksmäuschenstill. Mit leiser Stimme sagte sie: »Liebe Freundinnen, liebe Freunde. Vielen Dank, dass ihr den kleinen Sydän mit einem derart leuchtkräftigen Feuer, solch schöner Musik und einer solch entzückenden Feier in dieser Welt willkommen heißt. Ihm und mir geht es gut. Bei Saibro bin ich mir allerdings nicht so sicher.«

In ihre kleine Kunstpause lachten einige leise hinein. Währenddessen ging der breitschultrige Saibro leicht in die Knie, verdrehte seine grünbraunen Augen und schauspielerte seiner Liebsten zur Freude den Geschwächten, womit er vergleichbar viele Lacher einheimste wie Apaquia zuvor.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sah sie zu ihm auf, streckte sich und wuschelte Saibro durch sein volles dunkelblondes Haar. »Wir würden allzu gerne bleiben und unserem kleinen Racker die ersten Tanzschritte beibringen, aber das muss noch warten bis sein Vater wieder vollständig hergestellt ist. Darum ziehen wir uns jetzt auch gleich wieder zurück und wünschen euch allen ein rauschendes Fest. Vielleicht könnt ihr ein wenig von den leckeren Speisen und vom Kruid-Saft zurückhalten? Falls ich später noch Lust zum Feiern und zum Tanzen bekomme … nachdem ich meine zwei Jungs ins Bett gebracht habe.«

Alle lachten.

Dann machten sich die drei wieder auf den Weg zurück in Apaquias Hütte.

Kaum waren sie im Dunkel der Nacht um die nächste Ecke gebogen, setzte ein großer Jubel ein, zu dem sich nach wenigen Augenblicken auch wieder die Musik hinzugesellte. Sie verklang erst viele Stunden später – inmitten der halbdunklen Nacht.

Kapitel 2

»Nun gut. Dies ist also der Bauplatz, den Apaquia sich für die Hütte ihres Sohnes gewünscht hat. Er ist noch reich­lich verwildert, aber wie ihr aus meinen Ausführungen vermutlich herausgehört habt, finden auch Koremna und ich, dass dies ein guter und passender Ort ist«, sagte Saibro mit fachkundigem Blick und zufrieden vor seiner Brust verschränkten Armen.

Saibros Schwester Koremna stand neben ihm und nickte zustimmend. Dann fragte sie die interessierten Anwesenden: »Gibt es einen Einspruch?«

Es setzte ein vielstimmiges Gemurmel ein. Jedoch hatte letztendlich niemand etwas einzuwenden. Somit verkündete Saibro zufrieden: »Fein. Dann werden wir Sydäns Hütte genau hier bauen. Ich habe bereits mit den Gehölzerinnen gesprochen, sie werden das notwendige Holz zurücklegen und es uns liefern, sobald wir mit der Planung fertig sind. Koremna hat den grundlegenden Plan auch schon nahezu fertiggestellt. Nur fehlt bisher das Spezifikum. Wer hat eine Idee?«

Natürlich hatte Saibro mit seiner gut drei Jahre älteren Schwester im Vorfeld darüber gesprochen und sich ein Spezifikum überlegt, welches jede neugebaute Hütte im Dorf zu etwas Einzigartigem machen sollte. So hatte zum Beispiel Saibros Hütte nur kreisrunde Fenster, Apaquias in der Mitte eine Wendeltreppe, die zu einem Ausguck über dem Dach führte und die Hütte von Saibros gutem Freund Raaisi eine zum Teil gläserne Rückwand, die ihm einen wunderbaren Blick in den dahinter aufgestauten Dorfbach und die darin schwimmenden Fische gewährte. Inzwischen hatte sich Raaisi jedoch Vorhänge schneidern lassen. Denn allzu oft hatten sich übermütige Heranwachsende einen Spaß damit erlaubt, vor die Scheibe zu tauchen und den armen Raaisi zu erschrecken.

Auf Saibros Frage nach dem Spezifikum setzte wieder ein allgemeines Gemurmel ein, woraus vereinzelt stichwortartig Anregungen in die Runde gerufen wurden. »Was mit Pflanzen«, rief einer und jemand anderes schlug vor, dass die Hütte keine Fenster, nur Türen haben könnte. Wie üblich empfahl Teyat, dass das Dach aus buntem Glas bestehen sollte.

Die Geschwister hörten sich alle Vorschläge mit interessierter Mimik und der dazu passenden Gestik an. Nachdem sie eine gebührend lange Zeit zugehört hatten, pustete sich Koremna eine ihrer dunkelblonden Strähnen aus dem Gesicht und sagte dann, als wenn sie soeben einen Geistesblitz gehabt hätte: »Wie wäre es mit einem Netz aus Tauen über der Hütte?«

»Also im Prinzip … einer sehr großen Hängematte?«, fragte Saibro gespielt verwundert.

»Genau! So meinte ich das.«

Kurz war es gänzlich ruhig. Doch dann wurde der Vorschlag leidenschaftlich diskutiert.


»Das ist gut gelaufen«, sagte Saibro zu seiner ihm so ähnlich sehenden Schwester, während sie einträchtig den sich im Dorf verteilenden Leuten nachschauten. »Machst du dich an die besprochenen Ergänzungen im Plan? Ich gehe und rede schon mal mit Kamba. Er macht einfach die besten Seile weit und breit.«

Koremna nickte und fragte: »Weißt du, was mich am meisten wundert?«

»Dass niemand vorgeschlagen hat, dass Sydän in die Hütte des alten Kyesi ziehen soll?«

Die große Frau mit den kurz gehaltenen Wuschelhaaren nickte erneut.

»Diese baufällige Bruchbude liegt am äußersten Ende des Dorfes und bis der Kleine dort wirklich wohnen könnte, wäre sie endgültig hinüber. Außerdem wurde Kyesi erst vergangene Woche beigesetzt, es wäre zu geschmacklos, bereits jetzt seine persönlichen Habseligkeiten unter die Leute zu bringen. Geschweige denn heute schon in großer Runde über die zukünftige Nutzung seiner Hütte zu sprechen.«

»Aber unter uns gesagt«, raunte Koremna, »wir sollten die Hütte am besten komplett abreißen.«

»Diesen Gesichtsausdruck kenne ich, liebes Schwesterlein. Was führst du schon wieder im Schilde?«

»Nichts! Es ist doch aber so, dass …«

»Wusste ich es doch!«

Saibro musste schmunzeln. Koremna hingegen war nun in ihrem Element und sagte ganz ernsthaft: »Die Pflanzerinnen klagen schon länger, dass sie ein neues Gewächshaus brauchen und da auch einige ihrer Äcker in der Nähe von Kyesis Hütte liegen, wäre der Ort ideal. Zudem haben wir die Fenster des Alten erst vor zwei Wintern neu gebaut und wenn du dir mal die Fenster hier in dem Plan von Sydäns Hütte anschaust …«

Saibro musste lachen. »Jetzt weiß ich auch, warum mir die Fenster auf dem Plan derart bekannt vorkamen. Großartige Idee. Es ist eine wirklich gute Sache, Dinge wiederzuverwenden, die noch in Ordnung sind. Da fällt mir ein, dass der Kachelofen in Kyesis Hütte auch noch in einem wirklich guten Zustand ist.«

Lächelnd zog Koremna einen weiteren Bogen Papier aus ihrer Umhängetasche und hielt diesen ihrem Bruder unter die Nase. Nach einem kurzen Moment der Orientierung lachte dieser laut auf. Auf dem Papier war der fertige Plan von Sydäns Hütte zu sehen; inklusive dem Netz aus Tauen über dem Dach und einem Kachelofen im Inneren, der Saibro durchaus bekannt vorkam.


Auf dem Weg zu Kamba machte Saibro einen Umweg, der ihn an Apaquias Hütte vorbeiführte. Als er dort ankam, saß seine Liebste davor in der Sonne und strickte. Neben ihr lag Sydän in der Holzwiege, die sie einige Tage vor der Geburt gemeinsam in der Ausrüstungshöhle ausgesucht hatten.

»Ein schönes Bild«, sagte Saibro, als er Apaquias blühenden Vorgarten betrat.

»Das will ich aber schwer hoffen, dass dir der Anblick deines Sohns und seiner Mutter gut gefällt. Was führt dich her, mein Liebster?«

»Eben diese beiden. Aber eigentlich bin ich auf dem Weg zu Kamba.«

»Dann haben sie das Spezifikum gebilligt? Ich habe nur mitbekommen, dass ihr lautstark diskutiert habt.«

»Ja, das haben sie. Wie alles andere auch. Gleich morgen werde ich anfangen, die Sträucher zu roden, den Weg anzulegen und den Steg zu bauen.« Die Hütten von Apaquia und Sydän würden auf benachbarten Grundstücken stehen. Nur dass diese von dem Bach getrennt waren, der sich hinter Apaquias Häuschen entlang schlängelte. »Ich würde heute schon damit anfangen, aber ich muss noch das Plenum heute Abend vorbereiten.«

»Um was wird es heute gehen? Durch die Schwangerschaft und Sydäns Geburt bin ich derzeit nicht ganz auf dem Laufenden, was die inhaltliche Arbeit der Kleinrunden betrifft.«

»Zunächst müssen wir noch die Sache mit Sydäns Hütte abschließend abnicken lassen. Aber hauptsächlich wird es um das jährliche Treffen der Dorfgemeinschaften aus der Region gehen.«

Apaquia schlug sich mit der flachen Hand leicht gegen die Stirn. »Ach! Das hatte ich wirklich total verdrängt. In diesem Jahr findet das Treffen ja hier bei uns in Hainrod statt. Wann noch mal genau?«

»In zwei Wochen ist es so weit. Das Rahmenprogramm steht auch schon. Am Donnerstag ist Ankunftstag, da werden wir zum Mittagsmahl eine Schmierküche vorbereiten und den ganzen Tag im Dorfbau stehen lassen. Die Abgesandten lassen wir ihre Zelte unten in den Seeauen aufschlagen. Am Abend machen wir auf dem Dorfplatz ein Begrüßungsplenum und anschließend wollen Jescho und Teyat Spiele zum näheren Kennenlernen anbieten. Danach gibt es ein Feuer. Am Freitag werden wir nach dem Frühmahl ein Plenum machen, um dort die Dringlichkeiten und den diesjährigen Schwerpunkt für die Dörfer festzulegen.«

»Gibt es bereits Tendenzen, welchen Schwerpunkt wir aus Hainrod diesmal vorschlagen werden?«, fragte Apaquia nach.

»Nein, aber heute Abend werden wir dazu hoffentlich mehr wissen. Die entsprechende Liste zur Sammlung von Vorschlägen hing jetzt lange genug am Anschlagbrett. Jemand will jedoch aus Laisingen gehört haben, dass sie eine Idee vorstellen wollen, die sie Akademie nennen.«

»Was soll das sein?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das sowas wie unsere Schola. Nur dass es dort um das Zusammenbringen und Vertiefen des Wissens aus den einzelnen Dörfern gehen würde. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Das hört sich sehr spannend an«, sagte Apaquia. Sie war immer ungemein an allem interessiert, was sich um das Thema Wissen und dessen Vermittlung drehte. »Wie das große Treffen im Wesentlichen weitergehen wird, kann ich mir denken: Es wird viele Diskussionen in Kleinrunden, Essen und Tanz geben.«

Saibro musste grinsen. »Genau. Das ist das Programm für den Rest des Freitags und auch für Samstag und Sonntag. Nur dass es am Samstagabend Theater statt Tanz geben wird.«

»Theater?!« Apaquias Miene spiegelte ihre Freude über diese Nachricht wider.

»Ha! Wusste ich doch, dass du dich über diese Neuigkeit freuen würdest. Teyat hat ein paar Leute hier aus Hainrod und einige von unseren Nachbarn aus Fiskstedt überreden können, ein Stück von ihm einzustudieren. Jetzt fahren sie bereits seit einigen Wochen jeden Mittwochmorgen in der Früh mit zwei Booten den Fluss rauf und am Abend wieder runter. Ich bin schon wirklich sehr gespannt, was das wieder geben wird.«

»Du bist natürlich wieder skeptisch. Unseren Feingeist Teyat betrachtest du schließlich schon dein Leben lang mit einer gehörigen Portion Abneigung.«

Das wollte Saibro nicht auf sich sitzen lassen. »Nein! Wie kommst du da immer nur drauf? Ich finde es wichtig, dass sich jemand mit solchen Dingen auseinandersetzt wie Posse-Poesie und getanztem Trallala.«

Nach einem langen Augenblick, in dem sich die beiden mit Blicken duellierten, mussten beide lauthals losprusten. Damit erschreckten sie Sydän, der aus Leibeskräften zu schreien anfing. Saibro erhob sich von der Türschwelle, auf der er sich zwischenzeitlich niedergelassen hatte und eilte zu seinem Sohn. Er nahm ihn aus seiner Wiege, hob ihn vor sein Gesicht, roch genussvoll an ihm und machte versöhnliche Geräusche. Soeben wollte er ihn in seinen kräftigen Armen wiegen, da schritt Apaquia ein.

»Wenn er nicht in die Hose gemacht hat, dann gib ihn lieber mir. Er hat sicher Hunger. Außerdem solltest du dich auf den Weg machen. Es ist Mittagszeit und du weißt, dass Kamba sich nach dem Mittagsmahl gerne zu den Flachsfeldern aufmacht, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Da hast du mal wieder recht. Ich könnte ihm allerdings bei beidem Gesellschaft leisten: beim Essen und beim Spazierengehen. Zum Vorbereiten des Plenums bleibt auch danach noch genügend Zeit.«

»Mach das. Und könntest du bei dieser Gelegenheit eine große Rolle mittelstarkes Seil mitbringen?«

»Gerne. Wozu brauchst du das?«

»Ich brauche das nicht. Aber du willst doch Morgen eine Brücke bauen, oder?«

»Ah! Alles klar. Du hättest demnach nun doch lieber Halteseile am Steg statt eines Geländers aus Holz.«

»Nein, nein. Ich möchte keinen Steg. Ich will eine massive Holzbrücke mit allem drum und dran. Und zur Sicherheit unseres Sohnes sollen die Geländer an beiden Seiten mit Netzen ausgekleidet sein.«

»Fürs Netze machen fehlt mir aber wirklich die Geduld«, nörgelte Saibro.

»Also gut. Ich mache die Netze. Da wird mir in nächster Zeit auch nicht langweilig.«

»Dann weiß ich auch schon, wer das Spezifikum an Sydäns Hütte herstellen wird.«

»Du meinst: Wer dir bei dieser Arbeit zur Hand gehen kann?!«, konterte Apaquia mit einem Augenzwinkern.

Saibro nickte mit gespielt zerknirschtem Gesichtsausdruck, gab Mutter und Sohn je einen Kuss auf die Stirn und trollte sich in Richtung Dorfmitte.

Kapitel 3

»Da jetzt alle da sein sollten, die kommen wollten, begrüße ich euch recht herzlich zu unserem Wochenplenum. Nachdem ich vergangene Woche Protokoll geführt habe, werde ich das Plenum heute leiten.«

Saibro war die Aufregung deutlich anzumerken, die ihn auch nach so vielen Jahren bei dieser Aufgabe immer wieder überkam.

»Für das Protokoll ist heute zum ersten Mal Saja zuständig.«

Saibro schenkte der jungen Frau, die so zart wirkend neben ihm am Tisch saß, den Versuch eines aufmunternden Lächelns. Ein anerkennendes Raunen ging durch die gut einhundert auf dem Dorfplatz versammelten Menschen. Die Grüppchen, in denen sie saßen, bildeten alles in allem einen großen Kreis.

»Bevor es aber richtig losgehen kann, möchte ich heute jemanden besonders herzlich hier beim Plenum begrüßen. Es ist nämlich sein allererstes.«

Stolz und zufrieden blickte Saibro zu Apaquia hinüber, die in einer Gruppe von Frauen am Rande des Dorfplatzes saß und ein handliches Bündel in ihren Armen wiegte. Darin befand sich Sydän, der diesen großen Moment jedoch gebührend verschlief.

Nachdem sich das freudige Gemurmel schnell wieder gelegt hatte, fuhr Saibro mit der Leitung des Plenums fort. Zunächst fragte er ab, ob in der kommenden Woche ungewöhnliche Besucher oder Besucherinnen zu erwarten sein würden? Das war nicht der Fall. Danach arbeiteten die Anwesenden unter seiner Leitung die vor dem Plenum eingereichten Punkte ab. So erinnerte eine Gemüsebauerin daran, dass sie in den nächsten Tagen wieder verstärkt Hilfe auf den Feldern bräuchten. Ein Dorfbewohner erfragte bei den Gehölzerinnen Baumaterial für einen neuen Holzschuppen, da sein alter bei einem Sturm zusammengeklappt war.

Derart ging es eine Weile weiter, bis nach gut einer Stunde alle Punkte auf der Tagesordnung abgearbeitet waren. Das Plenum hatte auch alles rund um den Neubau der Hütte für Sydän genehmigt. Saibro erklärte daraufhin, dass wer wolle, nun noch dieses oder jenes mitteilen könne. Von dieser Möglichkeit wurde wie immer reichlich Gebrauch gemacht und als Saibro das Plenum erschöpft für beendet erklärte, war eine weitere halbe Stunde vergangen.


Nach einer wohl­ver­dienten Pause, in der sie gemeinsam mit den anderen das Nachtmahl eingenommen hatten, setzte sich Saibro zur Nachbereitung ein weiteres Mal mit Saja zusammen, welche das Plenum in der nächsten Woche leiten würde. Zunächst gingen sie Sajas Protokoll durch und schauten, ob sie darin alles Wichtige richtig festgehalten hatte. Im Anschluss sprachen sie die Planung für das nächste Plenum durch und legten abschließend fest, welche Ankündigungen sie am Mitteilungsbrett auszuhängen hätten.

Erschöpft ließen sich die beiden nach getaner Arbeit auf der Wiese am Dorfplatz nieder und genossen dabei eine Tasse heißen Gerstentee.

»Ich hätte nicht gedacht, dass das so anstrengend ist«, sagte die entkräftet im Gras liegende Saja.

Saibro quälte sich ein mitfühlendes Lächeln aufs Gesicht und pflichtete ihr bei. »Das kannst du laut sagen. Du hast dich aber wirklich sehr gut geschlagen. Das erste Mal ist immer am mühevollsten.«

Saja nickte gedankenverloren und nahm einen kräftigen Schluck vom Gerstentee.

Saibro hatte das Gefühl, dass er mit Saja zu plaudern habe. »Wie läuft es bei den Kontorinnen?«

»Och, ganz gut. Ich muss noch viel lernen, aber was will man nach ein paar Wochen im Kontor anderes erwarten? Jedenfalls macht es mir mehr Spaß als die Schola. Wie es aussieht, kann ich in der nächsten Woche zum ersten Mal mit auf eine Besorgungsfahrt, denn wir müssen für das jährliche Treffen noch viel herbeischaffen.«

»Erinnere mich nicht daran. In der Vorbereitungsgruppe haben wir auch noch mehr Unerledigtes auf unserer Liste, als mir lieb ist. Ich kann es kaum glauben, dass wir in gut zwei Wochen schon die ganzen Abgesandten hier im Dorf haben werden. Es ist noch viel zu tun. Und ich bin …«

Saibro unterbrach seinen Satz, da ihm ein Schatten ins Gesicht fiel. Als er aufblickte, sah er die Silhouette eines Mannes, der die tiefstehende Sonne verdeckte. Die Augen mit der Hand beschirmend, versuchte er herauszufinden, wer dort vor ihm stand. Der Mann machte einen Schritt zur Seite. Er stützte sich auf einen anspruchslos geschnitzten Wanderstab und war in einen langen, braunen Mantel von schlichter Machart gewandet. Die am Mantel befestigte Kapuze hatte er in den Nacken geschoben und über seiner Schulter trug er einen Sack. Um seinen Hals hing an einer langen Kette ein goldenes Schmuckstück. Es war ein Ring, der an der Seite eine nach unten zeigende Weiterführung hatte, die so wirkte, als wäre sie von diesem abgerollt worden. Saibro erkannte darin die Zahl Neun.

»Entschuldigt die Störung. Ich bin ein einfacher Monakh auf seiner Wanderschaft und möchte gerne für ein paar Nächte Obdach erbitten. Ein freundlicher Bootsführer hat mich von der Grenze auf dem Nagare bis direkt hierher ins Herz von Laakso mitgenommen.«

Saja sprang auf und auch Saibro mühte sich auf seine langen Beine. »Sei gegrüßt. Ich weiß zwar nicht, was ein Monakh ist, doch wer als Freund kommt, wird hier in Hainrod für zumindest eine Nacht ein Dach über dem Kopf sowie auch Nahrung finden. Mein Name ist Saibro … und dies ist Saja.«

Saja nickte dem Monakh freundlich lächelnd zu.

Der Monakh erwiderte dies mit einem huldvollen Nicken und wendete sich wieder an Saibro: »Mein Name ist Bruder Anaius und ich bin auf einer Reise zu den heidnischen Völkern, um ihnen die Botschaft Tuhans zu bringen.«

»Tuhan?«, fragte Saibro.

»Ja, unser Schöpfer und Lenker.«

»Hmm?! Das sagt mir nichts. Doch werden sich diese heidnischen Völker gewiss über die Botschaft freuen … wenn ihr Inhalt denn erfreulich ist.«

Nun musste der Fremde mit dem schütteren Haar schmunzeln.

Saibro wunderte sich darüber. »Habe ich was Unterhaltsames gesagt?«

»Nein, das ist es nicht. Es ist so, dass wir in meiner Heimat Majirani auch euch hier in Laakso zu den heidnischen Völkern zählen. Ich weiß aber auch, dass ihr euch selbst nicht als solche seht.«

Saibro fühlte sich bei diesem Mann nicht ganz wohl. Auch wenn er mit einem ungewöhnlichen Akzent sprach, verstand Saibro seine Worte zwar klar und deutlich, deren Bedeutung jedoch nur zum Teil. Er beschloss daher, diesen Gast flugs zum Gästehaus zu bringen, ihm dort das Nötigste zu zeigen und zu erläutern, dann aber möglichst schnell wieder seinen eigentlichen Aufgaben nachzugehen.

»Na schön, du bist sicher erschöpft von deiner Reise. Ich würde vorschlagen, dass ich dich zu unserem Gästehaus bringe.«

»Das hört sich wunderbar an. Also lass uns gehen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Saja.«

Bevor er mit dem fremden Mann aufbrach, sagte Saibro noch zu Saja: »Du kannst gerne schon mal die Aushänge vorbereiten. Ich bin gleich wieder zurück.«


»Wie viele Menschen leben hier in Hainrod?«, fragte der Monakh, als sie gemeinsam durch den Ort liefen.

»An die zwölf Dutzend«, antwortete Saibro kurzangebunden.

»Und wer ist euer Dorfoberster?«, fragte der Monakh unbeirrt weiter.

Verwundert antwortete Saibro mit einer Gegenfrage: »Was soll das sein? Ein Dorfoberster?«

»Nun ja. Jemand, der hier das Sagen hat, der die Entscheidungen trifft und alles überwacht.«

Nun war Saibro vollends verwirrt. »Nein, sowas haben wir nicht. Wozu soll so jemand gut sein?«

Der Monakh antwortete nicht direkt. »Dann habt ihr einen Rat?«

»Nein, wir haben ein Plenum.«

Der Monakh schien darüber nachzudenken, wobei er seine recht hohe Stirn in Falten legte. »Ob ich eure Gastfreundschaft unter Umständen auch länger als die eine Nacht in Anspruch nehmen könnte? Ich bin auch gerne bereit, dort mit anzupacken, wo es ein paar helfende Hände braucht.«

»Das kann ich nicht allein entscheiden«, antwortete Saibro. »Aber diese eine Nacht kannst du in jedem Fall unser Gast sein. Ich werde dein Ansinnen in der Früh gerne dem Morgenzirkel vortragen. Es wäre gut, wenn du dabei auch anwesend wärst. Der Morgenzirkel trifft sich gut eine Stunde nach Sonnenaufgang am Dorfplatz. Also dort wo du vorhin Saja und mich getroffen hast. Da gibt es in Sommernächten übrigens meist noch ein inoffizielles Spätessen. Du bist auch dazu herzlich eingeladen.«

»Gut, ich werde dort sein. Beim Morgenzirkel und auch beim Spätessen. Wie weiß ich, wann es nachher das Essen geben wird?«

»Einige Minuten bevor es fertig ist, wird am Dorfplatz ein Gong geschlagen. Du musst also nur deine Ohren offen halten.«

»Das werde ich, mein Sohn. Das werde ich ganz bestimmt.«

Saibro fragte sich, was diese Anrede zu bedeuten hatte? Er schätzte, dass es vom Alter her zwar hätte passen können, doch war er in keinerlei Hinsicht der Sohn dieses gedrungenen Mannes. Da sie allerdings gerade am Gästehaus angekommen waren, verdrängte Saibro diese Frage und zeigte ihrem Gast sein Zimmer.

Kapitel 4

Saibro rannte. Auf der Höhe der Hütte seines alten Jugendfreundes Gygoy sprang er kurzerhand über die ihm den Weg versperrenden Kisten mit Obst und Gemüse. Gygoy arbeitete als Pflanzer und zu seinen wiederkehrenden Aufgaben gehörte es, das in den Vortagen geerntete Obst und Gemüse zu sortieren. Die unachtsam auf und zum Teil auch vor seinem Grundstück umherstehenden Kisten enthielten die Bestellung einiger Nachbardörfer und würden im Laufe des Vormittags abgeholt oder verschifft werden. Heute stand Saibro jedoch nicht der Sinn danach, sich über Gygoys schlampige Art aufzuregen, wie er dies ansonsten häufig in einer Mischung aus Unverständnis und Zuneigung tat. Er hatte verschlafen. Dabei hatte er diesem seltsamen Fremden versprochen, ihn zum Morgenzirkel zu begleiten.

Außer Atem kam Saibro am Gästehaus an. Der Monakh war weder in seinem Zimmer, noch im Waschraum oder auf dem Abort zu finden. Wahrscheinlich war er bereits zum Dorfplatz gegangen und stellte sich dem Morgenzirkel ohne die ihm zugesagte Unterstützung Saibros vor. Er überlegte kurz, ob er sich nicht lieber wieder auf den Weg zu seiner Hütte machen sollte. Allerdings sprach sein Gewissen zu ihm und er rannte wieder los.


Als er auf dem Dorfplatz ankam, sah er den Monakh an der Versammlungsstelle auf dem Rand des Brunnens sitzen. Er sprach zu den Leuten, die derzeit den Morgenzirkel bildeten. Die Zusammensetzung dieses Gremiums wechselte jede Woche, doch immer bestand der Zirkel aus sieben fest in Hainrod lebenden Menschen. Sie waren berechtigt, einfache Entscheidungen selbst zu treffen und mussten einen Umgang für wichtige und dringende Angelegenheiten finden. Am Ende der Amtswoche berichtete jemand aus dem Zirkel im Wochenplenum über ihre Entscheidungen und die wichtigsten Ereignisse. Die getroffenen Beschlüsse warfen im Plenum nur selten Diskussionen auf, sondern wurden meist eher wohlwollend zur Kenntnis genommen. Hin und wieder kam es jedoch dazu, dass jemand mit diesem oder jenem nicht einverstanden war. Dann galt es die Beschlüsse des Morgenzirkels zu prüfen und zu schauen, ob sich nicht eine einvernehmliche Lösung finden ließ.


Auf den zweiten Blick erkannte Saibro, dass an diesem Morgen mehr Leute als üblich an der Versammlungsstelle am Brunnen hockten. Ohne weiter darüber nachzudenken, trat er an die Gruppe heran.

»Ah! Saibro«, sagte der Monakh, der ihn von seiner leicht erhöhten Sitzposition wohl als Erster wahrgenommen hatte.

»Entschuldigt meine Verspätung. Ich habe verschlafen.«

Der Monakh nickte huldvoll. »Wie du siehst, habe ich meinem Anliegen schon das nötige Gehör verschafft. Der Morgenzirkel hat mir auch schon zugesagt, dass ich zumindest bis zum nächsten Wochenplenum euer Gast sein darf.«

»Gut, dann ist meine Anwesenheit hier ja nicht weiter erforderlich.«

Saibro wollte sich bereits abwenden, als ihn der Monakh nochmals ansprach. »Du willst uns schon verlassen? Wenn du magst, kannst du dich gerne zu den anderen hinzugesellen. Ich berichte soeben von unserer Lehre.«

»Welcher Lehre?«, fragte Saibro.

»Der Lehre des Schöpfers.«

»Des Schöpfers?! Du hast ihn gestern bereits erwähnt. Wie war noch mal sein Name?«

»Tuhan.«

»Richtig! Tuhan. Was erschafft dieser Schöpfer? Ist er ein Künstler? Oder ein Handwerker?«

Der Monakh schmunzelte. »Nein, nein, mein lieber Saibro. Obwohl? Irgendwie hast du schon auch recht: Tuhan ist bestimmt sowohl Künstler als auch Handwerker. Sowie Gelehrter, Erzieher und auch Ratgeber.«

Saibro zog anerkennend die Augenbraue hoch. »Ein fleißiger Mann scheint er jedenfalls zu sein.«

Erneut lächelte der Monakh auf seine ganz eigene Art. »Und wie fleißig er ist! Niemand ist fleißiger als er. Aber willst du dich nicht zu uns gesellen? Was ich bisher erzählt habe, kann ich gerne noch einmal zusammenfassen. So könntest auch du voll und ganz meinem Bericht über Tuhans Lehre folgen.«

»Danke, aber ich habe bislang nichts im Magen und zudem heute einen Haufen Arbeit zu erledigen. Sei mir nicht böse, aber ich werde lieber rüber zum Morgenbuffet gehen und mich für den Tag stärken.«

Saibro hatte das Gefühl, sich richtiggehend aus der sprachlichen Umklammerung dieses Monakhs losreißen zu müssen. Während er in Richtung des Buffets ging, hörte er den Monakh zunächst nicht weitersprechen und fühlte sich richtiggehend hinterrücks von dessen Blicken durchbohrt.

Insgeheim fragte sich Saibro, ob es eine gute Idee war, diesem Fremden ihre Gastfreundschaft für mehr als die obligatorische Nacht angedeihen zu lassen? Dann schimpfte er sich selbst einen Narren. Natürlich gewährten sie jedem Reisenden ihre Gastfreundschaft; gerne auch für eine längere Zeit. Denn in aller Regel ließ dieser Besuch immer auch etwas von seinem Wissen, seinen Tricks und Kniffen bei ihnen zurück. Apaquia sprach dabei immer vom Teilen ohne zu zerteilen. Sie hatte eine besondere Vorliebe für solche Sinnsprüche.

Da er Apaquia gerade schon einmal im Sinn hatte, ließ er seinen Blick hoffnungsfroh über die Speisenden schweifen. Doch nirgends konnte er sie sehen. Stattdessen wurde er selbst von Gygoy erblickt, der daraufhin lautstark einforderte, dass sich Saibro zu ihm an den Tisch setzen solle.

Saibro tat ihm den Gefallen. Jedoch nicht ohne ihm einen Rüffel zu verpassen. »Sag mal? Wirst du es irgendwann einmal lernen, dass die Kisten mit dem Obst und dem Gemüse nicht wild verteilt mitten auf den Weg gehören? Da will vielleicht auch mal jemand mit einem Wagen durch?«

»Ich weiß ja, dass dich das stört. Aber sag mal ehrlich: Wer will schon mit dem Wagen dahinten in unsere Ecke, wenn nicht, um dort welche von meinen Kisten abzuholen?«

Saibro schüttelte seufzend den Kopf. Er mochte diesen Kerl zu sehr, um ihm wahrhaft böse zu sein. »Deiner Pflanzerschläue bin ich nicht gewachsen, mein lieber Gygoy. Vor allem nicht vor dem Morgenmahl. Kann ich dir noch was vom Buffet mitbringen?«

»Nein, danke. Ich habe alles was ich brauche.«

Saibro nickte und ging zum Buffet hinüber, wo er sich ein paar Scheiben Brot abschnitt und einen kleinen Teller mit Aufstrichen zusammenstellte. Er schöpfte sich aus dem Kessel heißes Wasser in die Kanne, in die er zuvor ein paar Teekräuter geworfen hatte und ging zurück. Jedoch nicht, ohne dabei abermals einen Blick zu der Gruppe am Brunnen zu werfen. Nach wie vor saß dort ein gutes dutzend Menschen und lauschte dem Monakh andächtig. Saibro runzelte die Stirn und setzte sich an den Tisch.

»Was ist das für ein Fremder, der dort drüben die Leute vom Morgenmahl abhält und dich derart nachdenklich wirken lässt?«, fragte Gygoy.

Den Blick weiterhin zum Morgenzirkel gewandt, antwortete Saibro: »Das wüsste ich auch gerne. Was er sagt, ist mir ein Rätsel. Ich habe irgendwie ein ganz komisches Gefühl im Bauch.«

»Ihm gegenüber oder hast du einfach nur Hunger?«

»Ihm gegenüber. Aber frag mich jetzt besser nicht wieso? Wenn ich darauf eine Antwort hätte, wäre mir mit Sicherheit wohler.«

»Ach, mach dir mal nicht zu viele Sorgen. Der Fremde reist doch bestimmt heute noch weiter, oder?«

»Von wegen! Er plant ein paar Tage hier zu bleiben und uns von einem Schöpfer namens Tuhan zu berichten.«

»Ein Schöpfer? Ist das ein Künstler oder ein Handwerker?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Aber anscheinend ist er beides. Und obendrein ist dieser Tuhan mit zahlreichen anderen Fähigkeiten beschlagen. So wie es der Fremde angedeutet hat, ist dieser Tuhan ein mächtig fleißiger Zeitgenosse.«

Gygoy winkte vielsagend ab und wechselte ganz unvermittelt das Thema. »Apropos fleißig. Was macht euer kleiner Racker? Hält er euch auch schön auf Trapp?«

Dankbar für den Themenwechsel lachte Saibro auf; nicht ohne Stolz in seiner Brust zu verspüren. »Und ob, mein Lieber, und ob. Die ersten beiden Nächte habe ich bei Apaquia geschlafen. Also mehr oder weniger. An einen erholsamen und durchgehenden Schlaf ist mit einem Kleinkind wahrlich nicht zu denken. Letzte Nacht habe ich deswegen zum ersten Mal wieder alleine in meiner Hütte gepennt und auch heute prompt verschlafen. Ein paar Monate noch wird er ausschließlich von Apaquia gestillt werden und somit ziemlich an sie gebunden sein. Solange habe ich das Privileg nach stressigen Tagen wie gestern eine Nacht in meiner Hütte und damit in Ruhe zu verbringen. Aber schon bald wird er dann auch immer häufiger bei mir sein. Apaquia ist schon ganz heiß darauf, zumindest stundenweise wieder in die Schola gehen zu können. Sie traut es den anderen natürlich nicht zu, dass sie den Kindern ihre Lehrgebiete gut genug vermitteln können.«

»Das glaub ich dir gerne. Sie ist wirklich anspruchsvoll. Und wahrscheinlich ist ihre Einschätzung nicht einmal falsch. Ich höre nur Gutes über ihre Arbeit mit unseren Kindern.«

Als Entgegnung auf Gygoys lobende Worte nickte Saibro nur und genoss die wohlige Wärme, die er oft verspürte, wenn er an Apaquia dachte. Es erschien ihm immer wieder wie ein Wunder, dass ausgerechnet er ihr Herz erobern konnte.

Kapitel 5

»Das nennt man Religion

Saibro schaute die stillende Apaquia verständnislos an. »Religion?«

»Ja, so nennen sie das in anderen Regionen. Jedoch haben die Leute hier in Laakso nie viel damit anfangen können.«

Saibro grübelte. Was ihm offensichtlich auch anzusehen war.

»Na, mein Lieber, was geht in dir vor?«

»Das scheint jetzt anders zu sein. Die Leute beim heutigen Morgenzirkel machten mir einen überaus interessierten Eindruck.«

»Du solltest darüber mit Muukja sprechen. Sie kennt sich mit dem Thema gewiss besser aus als ich.«

Saibro war überrascht. Nur selten musste Apaquia bei solchen Wissensthemen auf jemand anderen verweisen. »Das werde ich machen. Danke.«

»Bitte.«

Saibro stand von dem Hocker auf, den er sich vor Apaquias Sofa geschoben hatte und ging ziellos durch die Hütte.

»Ist noch was? Du schaust weiterhin reichlich belämmert drein.«

Saibro blieb stehen und drehte sich auf dem Absatz zu Apaquia. »Es ist nicht gut für uns. Keine Ahnung warum ich so empfinde, aber irgendwas sagt mir, das wir bei diesem Monakh und seiner Religion aufpassen sollten.«

Kaum hatte er dies ausgesprochen, ergriff ihn ein Tatendrang. Er stürzte geradezu auf die leicht erschrocken dreinblickende Apaquia zu, küsste sie und streichelte seinem Sohn zärtlich über den Kopf. Dann eilte er zur Tür.

Im Hinausgehen hörte er Apaquia noch sagen: »Du hast einen sehr, sehr wachsamen Vater, mein kleiner Schatz.«


Saibro fand die alte Heilerin im Garten hinter ihrer Hütte.

»Muukja! Was weißt du über Religion?«

Muukja, die soeben in einem Kräuterbeet ihr unliebsame Sprösslinge ausrupfte, richtete sich langsam auf, schaute ihren Besucher an, neigte ihren Kopf zur Seite und lächelte. »Grüß Gott, mein lieber Saibro. Warum fragst du? Willst du den kleinen Sydän taufen lassen?«

»Was? Hä? Taufen? Was ist das? Und wen soll ich grüßen?«

Muukja lachte laut auf, was sich bei ihr immer anhörte wie das Meckern einer Ziege.

Sie trat aus ihrem Beet heraus, hakte sich bei Saibro unter und führte ihn zu der windschiefen Bank, welche an der Rückwand ihres Hauses stand.

»Setz dich schon mal hin, mein Junge. Ich hol uns einen Krug Wasser mit frischer Minze. Danach erkläre ich dir, was Religion ist.«


Saibro wurde bereits leicht ungeduldig, so viel Zeit ließ sich Muukja beim Wasser holen. Mit prüfendem Blick hatte er nach der Bank geschaut, auf der er saß und überlegt, ob er sie bei Gelegenheit instandsetzen sollte. In der Hütte hatte er zudem das Klappern von Geschirr und allerhand anderen Gegenständen gehört und Muukja per Zuruf auch schon Hilfe angeboten. Sie hatte abgelehnt und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten und seinen Blick über Muukjas Garten und die dahinter liegenden Fischteiche schweifen zu lassen. In diesen Teichen hielten sie einige Karpfen und Forellen für das Futter ihrer Hunde und Katzen. Die Menschen in Hainrod ernährten sich fleischlos, hielten sich aber Hühner zur Versorgung mit Eiern sowie Ziegen für die Käserei. Zudem hatten sie gemeinsam mit Fiskstedt eine Herde Schafe, die die beiden Dörfer mit Wolle versorgten. Kühe hatten sie in Hainrod keine, aber Saibro wusste, dass andere Gemeinschaften sich welche hielten.

Ganz langsam merkte Saibro, wie er ruhiger wurde. Er lehnte sich zurück.

Soeben beobachtete er einen am Himmel kreisenden Milan, als Muukja wieder mit einem Krug und zwei Bechern aus der Hütte raustrat.

»Ein schöner Vogel, nicht wahr? Für mich gehört er schon fast zu unserer Dorfgemeinschaft dazu, so oft sitze ich hier und beobachte ihn, wie er dort oben erhaben durch die Lüfte gleitet.«

Saibro nickte knapp und schaute weiterhin zu dem Greifvogel hinauf, der dort ungestört deine Kreise zog.

»Andere Völker glauben, dass dort oben ihr Gott ist«, sagte Muukja. Sie hatte ihnen inzwischen jeweils einen Becher mit Minzwasser eingeschenkt und sich neben Saibro auf die Bank gesetzt. Sie reichte ihm seinen Becher.

»Gott? Wer oder was ist dieser Gott? Ein Vogel?«

Muukja schmunzelte. »Nein, ein Gott ist ein über der Natur stehendes Wesen. So glauben es zumindest viele Menschen. Meist ist ihr Gott allmächtig und er soll alles erschaffen haben.«

»So ein Quatsch!«

»Findest du wirklich? Was glaubst du, wie das alles hier entstanden ist? Die Bäume, der Milan, du und ich?«

»Die Bäume sind gewachsen und der Milan ist wie du und ich geboren worden.«

»Das stimmt, aber wo nahm das alles seinen Anfang?«

»Was weiß ich? Und warum sollte das wichtig sein?«

Muukja schmunzelte. »Ja, auf diese Weise sehen wir beide das. Und die meisten hier in Laakso auch. Es ist nicht wichtig, wie das alles seinen Anfang nahm. Denn nur weil sich dies oder jenes nicht herleiten lässt, muss man sich noch lange nicht auf eine der unzähligen möglichen Ursachen festlegen. Jedoch gibt es Menschen, die treiben diese Fragen derart um, dass sie unbedingt eine Erklärung haben wollen. Insbesondere die Frage nach dem Ursprung von Allem.«

»Aber wie soll sowas gehen? Niemand kann in der Zeit zurückreisen und nachsehen.«

»Nein, das kann niemand. Um jedoch zumindest zu versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, gibt es grundsätzlich zwei unterschiedliche Ansätze: die Religion und die Wissenschaft.«

»Wissenschaft?! Das kenne ich. Das wird in unseren Scholas gelehrt.«

»Im Prinzip ist das richtig. In der Wissenschaft werden Phänomene untersucht und es wird versucht Fragen zu beantworten. Dabei werden aus Beobachtungen Theorien aufgestellt, die immer wieder zu überprüfen sind.«

»Puh! Das stelle ich mir aufwendig vor.«

»Da hast du recht. Meiner Ansicht nach macht man es sich bei der Religion schon deutlich leichter. Da wird gesagt: Ein allmächtiger Gott hat alles erschaffen. Und nicht nur das: Er lenkt auch alles.«

Saibro seufzte. »Und dieser Monakh betreibt Religion?«

»Welcher Monakh?«, fragte Muukja und schien dabei überaus hellhörig geworden zu sein.

»Oh! Ich dachte du hättest davon gehört. Ich meine den Monakh, der gestern kurz nach dem Plenum hier auftauchte und mittlerweile im Gästehaus untergebracht ist. Er hat vor eine Zeit lang hier zu bleiben und hat heute beim Morgenzirkel angefragt, ob er unser Gast sein darf.«

Muukja schlug auf die Lehne der Bank und sagte: »Donnerwetter! Als wenn er es gerochen hätte, dass der alte Kyesi kürzlich verstorben ist.«

»Was hatte der Monakh mit dem alten Griesgram zu schaffen?«

»Kyesi war als Knabe dabei, als sie den letzten Monakh aus der Gegend vertrieben haben.«

»Wie bitte? Vertrieben? Ich habe noch nie gehört, dass jemals jemand von hier vertrieben wurde. Was hatte dieser Monakh getan?«

»Er wollte seinen Glauben verbreiten … seine Religion. Hast du mitbekommen, welchen Gott dieser Monakh anbetet? Ilaah, Tuhan oder …?«

»Ja, genau«, unterbrach Saibro Muukjas Aufzählung, »diesen Tuhan, den erwähnte er.«


»So, du muskulöser Mann meiner Träume. Jetzt schwing dein knackiges Hinterteil mal zu mir herüber.« Apaquia saß auf ihrem bereits in die Jahre gekommenen Sofa und klopfte auf den freien Platz neben sich. Sie hatte Saibro für nach dem Nachtmahl zu sich eingeladen.

Er stand mit dem Rücken zu Apaquia am Herd und goss heißes Wasser in eine Kanne mit Kräutern. Draußen war es inzwischen dunkel geworden und Sydän schlief neben dem Sofa in der von Saibro restaurierten Wiege.

»Einen Moment bitte, ich bin gleich bei dir.«

Aus dem Augenwinkel sah Saibro, dass Apaquia verstohlen lächelte und ihn beobachtete, wie er geschäftig am Herd herumfuhrwerkte. Sie nahm eine offensichtlich von ihr zurechtgelegte Kladde vom Beistelltisch und begann beiläufig darin zu blättern.

Wenige Augenblicke später ließ sich Saibro neben ihr auf das Sofa plumpsen. »Nun? Was gibt es? Du hast doch was?«, fragte er.

»Stimmt. Ich habe recherchiert. Du hast mich neugierig gemacht.«

»Ich? Womit?«

»Mit dem was du mir gestern Abend nach deinem Besuch bei Muukja erzählt hast.«

Saibro zog die Augenbrauen hoch.

»Jetzt guck nicht so.«

»Wie guck ich denn?«

»Als wenn du mich nicht so richtig ernst nehmen würdest.«

Saibro lächelte milde und gab Apaquia einen Kuss auf ihre Wange. »Also dann: Du hast recherchiert.«

»Richtig. Muukja hatte dir doch erzählt, dass hier mal ein Monakh aus dem Dorf gejagt worden sei. Die Geschichte hat mich irgendwie nicht losgelassen. Man muss sich das mal vorstellen! Da soll tatsächlich jemand aus dem Dorf verjagt worden sein. Mich hat das neugierig gemacht. Darum bin ich heute zum Kontor gegangen und habe in den alten Protokollen nachgesehen.«

»Woher wusstest du, in welchen Jahrgängen du suchen musstest?«

»Das habe ich mir zusammengereimt. Der alte Kyesi war 78, als er starb. Muukja ist heute 82 Jahre alt. Meines Wissens kam sie aber erst als Achtzehnjährige hier nach Hainrod. Also vor gut 64 Jahren. Da ich davon ausgegangen bin, dass Kyesi mindestens zehn Jahre alt gewesen sein musste, um sich hinreichend an den Vorfall erinnern zu können und zudem Muukja noch nicht hier gelebt haben konnte, habe ich in den Jahrgängen von vor 64 bis 68 Jahren nachgelesen.«

»Und weiter?«

»In einem Protokollbuch von vor gut 66 Jahren bin ich fündig geworden.« Apaquia klopfte sachte auf die Kladde, die sie auf ihrem Schoss liegen hatte.

»Ah! Jetzt wird es spannend«, sagte Saibro.

Apaquia nickte zufrieden, wechselte aber unvermittelt das Thema: »Was macht eigentlich der Tee?«

»Oh!«, entfuhr es Saibro und er sprang blitzartig auf. Eilig zog er das Netz mit den Kräutern aus der Kanne, holte zwei Tassen vom Regal über dem Herd, in die er jeweils etwas von dem Heißgetränk eingoss und dann war er auch schon wieder zurück bei Apaquia. »Hier! Dein Tee.«

Apaquia nahm die ihr dargebotene Tasse entgegen und pustete zunächst einmal hinein.

»Jetzt erzähl schon weiter. Was hast du rausgefunden?«

»Nun. Einiges war nur mehr schwer zu entziffern und das ganze Thema wei­test­ge­hend auf die Fakten runtergebrochen. Aber so viel habe ich herausbekommen: Eines Tages kam ein Mann mit seinem Boot den Nagare runter und hat sich wohl gänzlich unüblich in unseren Seitenarm des Flusses verirrt. Er fragte an, ob man ihm helfen könne, daran einige schadhafte Stellen auszubessern. Gerne wurde ihm Hilfe angetragen. Beim Plenum sechs Wochen später wurde im Protokoll festgehalten, dass ein paar Tage zuvor das Boot des Mannes niedergebrannt sei. Hier wurde auch zum ersten Mal sein Name in einem Protokoll erwähnt: Er hieß Saliah. Zu den Gründen des Unglücks stand dort jedoch nichts. Zwei Wochen später wurde eine Veranstaltung am Waldfestplatz angekündigt, bei der Saliah anbot von seiner Lehre zu berichten. In den folgenden Wochen wiederholte sich die Ankündigung immer wieder. Gut ein Vierteljahr später beschwerte sich ein Hainröder über Saliah und dessen Andacht. So nannte dieser seine Veranstaltung.«

Apaquia machte eine kurze Pause, um von dem Tee zu trinken, dann berichtete sie weiter. »So wie ich es verstanden habe, ging es in der Beschwerde darum, dass angeblich einige zugesagte Arbeiten nicht erledigt worden waren. Bei denen die daran regelmäßig teilnahmen, nahmen die Andachten sowie die Vorbereitungen darauf immer mehr Zeit in Anspruch. In einem Protokoll einige Wochen später habe ich einen Eintrag gefunden, der von einer Schlägerei unter zwei Männern berichtete. Der eine hatte sich über die Lehren von Saliah lustig gemacht und darüber hatte sich der andere so ereifert, dass es zu Handgreiflichkeiten kam.«

Saibro war erstaunt. Er konnte sich nicht erinnern, dass es zu seinen Lebzeiten jemals eine Schlägerei in Hainrod gegeben hatte – und er war nun schon fast 30 Jahre alt.

»Hiernach folgten ein paar Einträge, in denen immer nur die Hinweise auf die wöchentliche Andacht in den Protokollen zu finden war. Aber dann kam der Hinweis, dass diese Andachten inzwischen täglich nach Sonnenaufgang stattfinden würden. Der nächste außergewöhnliche Eintrag ließ wiederum ein paar Wochen auf sich warten, hatte es aber in sich: Ein Hainröder namens Korumak beantragte, dem … und hier wurde das Wort zum ersten Mal in einem Protokoll festgehalten … dem Monakh das Gastrecht zu entziehen. Es wurde eine Kleinrunde dazu eingesetzt. Zwei Wochen später unterstützte auch diese Runde, die Forderung von Korumak. Es gab lautstarke Proteste und das Plenum wurde abgebrochen. In den beiden darauffolgenden Wochen fand kein Plenum statt. Im nächsten Eintrag wurde der Monakh und seine Andachten nicht erwähnt und erst in der Woche darauf beantragte wiederum jener Korumak, dass im Protokoll festgehalten werden sollte, dass der Monakh Saliah Hainrod verlassen habe und zwei Elternpaare mit insgesamt vier Kindern mit ihm gegangen seien. Es wurde auch erwähnt, dass diese als Familien das Dorf verlassen hätten.«

»Wie? Es gab in Hainrod damals richtige Familien?«

»Das kann ich dir auch nicht genau sagen. Wir sollten das mal Muukja fragen. Laut Protokoll ist sie nur wenig später hier nach Hainrod gezogen.« Apaquia klopfte sachte auf die Kladde, die schon die ganze Zeit auf ihrem Schoss lag.

Daraufhin nahm sich Saibro das geschichtsträchtige Protokollbuch und blätterte darin herum. »Schade, dass sich damals niemand die Mühe gemacht hat, mehr darüber aufzuschreiben. Es würde mich schon sehr interessieren, was damals wirklich hier abgelaufen ist.«

Apaquia schaute Saibro nachdenklich an. »Ich vermute stark, dass Muukja noch einiges zu den Vorfällen weiß. Du hast doch ein gutes Verhältnis zu ihr, mit Glück und Geschick entlockst du ihr noch ein paar Details. Wie du mir ihre Reaktion auf das Auftauchen des Monakhs geschildert hast, wird sie auch nicht wollen, dass sich eine Geschichte wie die damals wiederholt.«

Saibro nickte versonnen und schaute in Apaquias funkelnde Augen. »Sowas macht dir Spaß, oder?«

Mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Brauen fragte sie: »Was meinst du?«

»Nun ja. In alten Protokollen zu stöbern und so.«

»Aber klar doch. Du weißt, was ich immer zu sagen pflege: Egal was du auch tust, es ist nie eine …«

»… verlorene Zeit, solange du dabei etwas lernen kannst.«

Nun lächelten sie beide und küssten sich. Dabei wollte Saibro Apaquia über den dicken Bauch streicheln, wie er es in den vergangenen Monaten oft und gerne getan hatte. Er bedauerte in diesem Moment ein wenig, dass ihre Schwangerschaft mittlerweile vorüber war. Sogleich wurde ihm jedoch freudig bewusst, was das zudem bedeuten könnte. Er wechselte kurzerhand das Thema. »Du? Es war bei mir ein langer, harter Tag und ich würde gerne bald ins Bett gehen. Aber draußen ist es so dunkel und es hat auch angefangen zu regnen!«

Apaquia schmunzelte. »Als wenn dir ein winziger Sommerregen auf deinem Weg in die übernächste Hütte etwas anhaben könnte. Aber gut. Ich habe nichts dagegen, dass du hier schläfst.«

Saibro setzte ein triumphierendes Lächeln auf. »Und was machen wir jetzt noch vor dem Einschlafen?«

Apaquia schüttelte mit sichtlich gespielter Verständnislosigkeit den Kopf und antwortete schelmisch grinsend: »Ich habe keine Ahnung. Uns wird schon das eine oder andere einfallen. Solange wir unseren kleinen Schatz nicht aufwecken.«

Kapitel 6

»Saibro. Nicht wahr?«

Der Angesprochene nickte knapp.

»Und wen haben wir da?« Der Monakh beugte sich zu dem Korb hinunter, der auf dem ansonsten leeren Handwagen stand.

»Das ist mein Sohn … Sydän.«

Der Monakh schob die Decke zu Seite, die Sydäns Köpfchen vor der frühsommerlichen Kraft der Sonne schützen sollte. »Für mich ist es immer wieder ein Wunder, wie aus solch einem winzigen Knäuel mal ein solch stattlicher Mann werden kann, wie du einer bist.«

Saibro schaute auf den gut zwei Köpfe kleineren Mann hinab und nickte abermals. Gerne wollte er weiterziehen.

»Ich halte euch sicher auf. Wohin bist du unterwegs?«

»Runter ins Holzwerk.«

»Ah! Darf ich dich begleiten?«

Im Grunde genommen wollte Saibro das nicht. Doch nickte er abermals, nahm die Deichsel des Handwagens wieder auf und trottete los. Mit einigen schnellen Schritten war der beleibte Monakh wieder neben ihm und so gingen sie schweigend in Richtung Anlegestelle.


Als Saibro über den Dorfplatz gelaufen war, hatte er den Monakh bereits aus der Ferne am Brunnen stehen sehen. Er tat jedoch so, als hätte er ihren Gast nicht wahrgenommen. Das Wochenplenum am Abend rückte unaufhörlich näher und er hatte heute noch viel vor. Zwar hatte er seinen Schritt beschleunigt, doch der Monakh war zielstrebig vor ihn hingetreten und jetzt hatte Saibro sich ihn eingefangen.


Kurz bevor es zur Anlegestelle hinunterging, bogen sie nach links ab, um an der Au des Nagares entlangzulaufen.

»Ich war in den letzten Tagen viel in der Gegend hier unterwegs. Seid ihr euch bewusst, auf welch sagenhaft schönem Fleckchen Erde ihr hier lebt?«

»Schon.«

»Schau nur hier: die Hütten. Es muss ein Traum sein, so nah am Fluss zu leben. Es ist übrigens sehr zuvorkommend von euch, dass ihr das Gästehaus direkt an den Nagare gebaut habt. Ich erfreue mich sehr daran, dort vorübergehend wohnen zu dürfen.«

Saibro wusste nicht, was er dazu sagen sollte und schwieg.

»Was ist das für ein Gebäude?«, fragte der Monakh, ohne dass ihn die von Saibro ausgehende Stille zu interessieren schien.

»Das ist das Kontor.«

»Also betreibt ihr doch Handel?«

»Was meinst du damit?«

»Mit Handel treiben? Nun, darunter verstehe ich den Austausch von Gütern mit anderen. Ich habe bereits bemerkt, dass ihr hier in eurem Dorf die Dinge des alltäglichen Lebens frei tauscht. Mit anderen Dörfern betreibt ihr aber schon Handel auf Rechnung, oder?«

Saibro war verwirrt. »Ich weiß nicht genau wovon du sprichst. Im Kontor haben wir unsere Unterlagen und es wird geschaut, dass wir einen Überblick darüber bewahren, wie viel wir erzeugen und herstellen müssen. Die Kontorinnen schreiben auf, was wir selbst verbrauchen und was in andere Dörfer geht. Dann vergleichen sie. Mit den Wetteraufzeichnungen, den Zahlen zur Bevölkerung, den Gästen und ob es außergewöhnliche Ereignisse gab. Das alles wird in Beziehung zu anderen Jahren gesetzt und eine Planung für die kommenden fünf Jahre gemacht. Das Folgejahr wird recht exakt geplant, die nächsten zwei möglichst genau und die beiden letzten schon einmal grob vorab. Aber falls du mehr über die Arbeit der Kontorinnen erfahren möchtest: Ich bin mir sicher, wenn du sie fragst, werden sie dich gerne durchs Kontor führen und ihre Arbeit erläutern.«

Nachdem er dies alles erzählt hatte, wunderte sich Saibro über sich selbst. Er hatte ursprünglich gar nicht mit dem Monakh reden wollen.

»Eine interessante Vorgehensweise. Aber sag mir noch eins: Wie rechnet ihr die Güter und Dienste mit den anderen Dörfern ab?«

»Abrechnen? Wir rechnen nichts ab. Wie du vermutlich schon mitbekommen hast, gibt es jedes Jahr zu Sommerbeginn ein Treffen der umliegenden Gemeinschaften. Das nächste findet hier in Hainrod statt und beginnt heute in einer Woche.«

Diesmal war es der Monakh, der einfach nur nickte und da hörte sich Saibro schon wieder plappern. »Dort werden sich unter anderem auch die Vertreterinnen der Kontore treffen, oder wer auch immer für die Planungen in der jeweiligen Gemeinschaft zuständig ist. Hauptsächlich betreiben sie dort einen Erfahrungsaustausch. Doch zu guter Letzt gibt es eine Runde, in der jede Gemeinschaft sagen kann, ob sie im vergangenen Jahr unüblich hohe Belastungen hatte und ob sie einen Ausgleich aus den anderen Dörfern braucht. Meist sind es eine oder zwei Gemeinschaften, die wegen Krankheit, Tod, Unwetter oder anderen tragischen Ereignissen einen solchen Ausgleich erbeten. Die anderen versuchen diese dann gemeinsam zu gewähren.«

»Interessant. Aber betreibt ihr diesen Austausch nur untereinander?«

»Nein. Natürlich nicht. In der Regel können wir in den umliegenden Gemeinschaften die meisten Bedürfnisse aus unseren eigenen Erzeugnissen und mittels unserer eigenen Fähigkeiten abdecken. Wenn wir etwas aus der Ferne brauchen, schauen wir, ob es sich dies oder jenes zum Tauschen finden lässt. Zweifelsfrei weißt du, dass es insgesamt drei Regionen in Laakso gibt, die in sich und miteinander den freien Tausch betreiben?«

Der Monakh schüttelte mit dem Kopf.

»Wir im Nordwesten sind eine davon. Weiter gibt es dann noch den Südwesten und die dritte liegt im Osten. Auf unserem Treffen nächste Woche werden die Kontorinnen auch alles für das in ein paar Wochen stattfindende Treffen der drei laaksonischen Regionen vorbereiten. Aber damit kenne ich mich wirklich nicht so gut aus. Ich weiß nur, dass es diese Einteilung in die drei Regionen aus organisatorischen Gründen gibt und dass sie im Prinzip genauso frei untereinander tauschen, wie es innerhalb der Regionen der Fall ist.«

»Gut, das ist klar. Aber ursprünglich wollte ich wissen, ob ihr auch über die Grenzen von Laakso hinaus Handel betreibt?«

Saibro zuckte mit den Schultern. »Ich glaube schon. Im Plenum erzählen die aus dem Kontor immer mal wieder, dass wir aus Laakso recht angesehen sind, wenn es um das Tauschen geht. Wir sind großzügig und fühlen uns dem gerechten Ausgleich verpflichtet.«

»Ja, großzügig seid ihr. Das kann ich nur bestätigen.«

Längst waren sie beim Holzwerk angekommen und standen dort auf dem Hof.

»Ich weiß, mein guter Saibro, dass du nun deinen Tätigkeiten hier nachkommen willst. Aber eine Frage habe ich dennoch: Tauscht ihr auch gegen Geld?«

»Geld? Du stellst mir seltsame Fragen. Kann sein, dass die eine oder andere Gemeinschaften sowas zum Tauschen vorrätig hält. Aber das ist eine reine Mutmaßung. Frag am besten mal im Kontor nach.«

Mit grüblerischem Gesichtsausdruck schaute der Monakh Saibro eindringlich an. »Das sollte ich wohl tun.« Dann hellte sich seine Miene unvermittelt wieder auf. »Aber nun zu deinem Besuch hier im Holzwerk. Was führt dich eigentlich her?«

»Nichts besonderes. Ich möchte nur ein paar Bretter für eine Wandtafel holen. Ich habe vor die alte oben an der Dorfhalle zu ersetzen. Sie ist schon deutlich in die Jahre gekommen. Und zu klein ist sie auch.«

»Sicherlich eine gute Tat. Und auch, dass du das Hüten deines Sohnes in diese Arbeit einbeziehst, finde ich bemerkenswert.«

»Ist es das?«

Der Monakh krauste die Stirn und antwortete mit einer Gegenfrage: »Ich nehme mal an, das ist bei euch normal so?«

»Natürlich. Aber jetzt lass uns rein gehen. Ich will die Tafel vor dem Plenum heute Abend fertig bekommen.«

»Aber sicher doch. Kann ich dir zur Hand gehen?«

Saibro nickte unwillig. Dann ging er ins Holzwerk hinein, den Handwagen mit Sydän darauf hinter sich herziehend.

Der Monakh folgte ihnen.


Saibro tat, was er im Grunde hatte vermeiden wollen: Er stellte dem Monakh eine Frage: »Dort wo du herkommst, da wird mehr mit Geld … ähm … gemacht?«

Ohne von dem Brett aufzuschauen, welches er nach den Anweisungen Saibros zurechtsägte, antwortete der Monakh: »Ja, zweifelsohne.« Und nachdem er den letzten Schnitt gemacht hatte, fügte er hinzu: »Mir ist nicht immer ganz wohl dabei, auch wenn ich es von Kindesbeinen an nicht anders kenne. Selbst bei den Brüdern Tuhans … das ist die Gemeinschaft, in der ich zu Hause bin … selbst dort werden mit den Menschen außerhalb dieser Bruderschaft, alle Waren und Dienstleistungen über ihren Geldwert abgerechnet.«

»Ist das nicht fürchterlich kompliziert?«

Der Monakh lachte kurz über die Frage.

Saibro meinte, aus diesem Lachen auch eine Portion Bitterkeit herauszuhören.

»So habe ich das bisher gar nicht gesehen. Aber wenn ich mir vor Augen führe, was du mir über euren Umgang mit den Dingen des Alltags beschrieben hast, muss es dir wirklich so vorkommen.«

Saibro fragte sich, warum er sich gerade so klein vorkam? »Ist an unserer Art zu leben, irgendwas nicht in Ordnung?«

»Das, mein lieber Saibro, würde ich mir nie anmaßen zu beurteilen. Gut. Natürlich fehlt es euch an der Erleuchtung durch Tuhan. Aber die Art, wie ihr hier zusammensteht und zusammenlebt, imponiert mir schon sehr. Offen und ganz ohne auf den eigenen Vorteil aus zu sein.«

Saibro, der seine Arbeit gerne alleine und in aller Ruhe erledigte, hatte die Lust an dieser Unterhaltung schon länger verloren, auch weil er bei dem nicht immer ganz mitkam, was ihm der Mann aus der Fremde erzählte. Zu seiner Erleichterung waren sie mit dem Zusammenbauen der neuen Wandtafel nahezu fertig.

»Gibst du mir das Brett?«

Der Monakh reichte ihm das Stück Holz, stand auf und trat ein paar Schritte zurück.

Saibro vollendete ihr Werk mit ein paar gekonnten Hammerschlägen.

»Kommt da noch Farbe dran?«, wollte der Monakh wissen.

»Ja«, antwortete Saibro kurzangebunden und verschwieg ihm, dass er nach dem Trocknen der Farbe auch noch einen Rahmen anbringen wollte; wahrscheinlich morgen und am liebsten ungestört.

»Wo ist sie? Das können wir doch schnell noch machen.«

Saibro lächelte in sich hinein. »Hättest du denn Zeit dafür?«

»Aber sicher doch.«

»Wunderbar. Ich hatte mich schon geärgert, dass ich das heute nicht mehr schaffen würde. Ich muss nämlich vor dem Plenum noch etwas anderes erledigen. Zum Glück kann ich dir jetzt die Farbe und einen Pinsel überlassen und du kannst den Rest noch schnell erledigen.«

Dem Monakh wich das Blut aus dem Gesicht. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, eilte Saibro schon zu der Abstellkammer der Dorfhalle. Dort hatte er bereits am Vortag die Farbe und die Pinsel bereitgestellt.

Kapitel 7

»Was kann das Herz Tuhans mehr erfreuen als solch ein trautes Familienglück?«

Saibro schaute überrascht von seinem Sohn auf, den er im Gras liegend auf seinem Bauch wiegte. Auf dem Weg vor Apaquias Hütte sah er den Monakh stehen. Saibro schloss kurz die Augen, atmete tief durch und rang sich ein mildes Lächeln ab. »Apaquia, kennst du schon unseren Gast?«

Apaquia nickte und sagte halb an Saibro, halb an den Monakh gerichtet: »Gesprochen haben wir uns bisher nicht. Wenn ich es richtig gehört habe, ist dein Name Anaius, nicht wahr?«

»Ganz richtig. Auch wenn ich in eurem Dorf gerne auch nur der Monakh genannt werde. Vor allem von und wegen unserem lieben Saibro hier.«

»Ja, so ist er: lieb … aber nicht liebreizend«, erwiderte Apaquia.

Der Monakh zog eine Augenbraue hoch und Apaquia schmunzelte verschwörerisch.

Saibro fühlte sich nicht wohl. Am liebsten wäre ihm gewesen, wenn der Monakh einfach weitergezogen wäre. Dieser blieb indes unbeirrt vor dem Gärtchen stehen und schaute zu ihnen herüber. Da Apaquia schon wieder in das Knüpfen eines der Netze für die halbfertige Brücke hinter ihrer Hütte vertieft war, fragte Saibro den Monakh zähneknirschend: »Bist du zufällig in diese Ecke geraten oder führt dich etwas Bestimmtes zu uns?«

»Da hast du recht mit deiner Vermutung. Das ich hier bin, ist kein Zufall. Ich wollte zu dir.«

Saibro seufzte. »Was gibt’s?«

Nun mischte sich Apaquia ein. »Warum bist du so unfreundlich zu unserem Gast? Bitte komm doch zu uns. Möchtest du etwas trinken? Ich habe frischen Saft aus Waldbeeren im Haus.«

»Sehr freundlich, ich nehme deine Einladung gerne an.«

Während der Monakh sich anschickte näherzutreten, drehte sich Saibro zu Apaquia um und funkelte sie übellaunig an. Apaquia schien dies jedoch gleichmütig zu ignorieren. Sie räumte ihr Handwerkszeug beiseite und wies ihrem Gast einen Platz auf der zweiten vor ihrer Hütte stehenden Bank zu.

An Saibro gewandt, sagte sie: »Sei ein Schatz: Gib mir den Kleinen und hol Anaius einen Becher sowie eine Flasche vom Saft aus der kühlen Kammer. Und wenn du magst, bring dir auch einen Becher mit.«

Saibro seufzte erneut und gab sich geschlagen. Er drückte Apaquia Sydän in die Hände und verschwand in der Hütte.


Als er mit einer Flasche vom Waldbeerensaft, einem Becher und einem Krug Wasser wieder aus dem Haus kam, sah er, wie der Monakh neben Apaquia auf der Bank saß und Sydän in seinen Armen wiegte. Der Kleine machte einen quietschvergnügten Eindruck. Saibro war genervt. Zwischen den Bänken stand ein abgesägter Baumstumpf, der ihnen als Tisch diente. Saibro stellte die Erfrischungen darauf und ließ sich auf die leere Bank plumpsen. Er schmollte. Doch keiner beachtete ihn. Der Monakh und Apaquia waren viel zu sehr mit dem kleinen Sydän beschäftigt. Und dieser mit Quieken.

»Nun, Monakh. Was ist es, das dich zu mir führt?«

Der Angesprochene schaute auf. »Ach ja! Genau. Ich war abgelenkt. Also: Man erzählte mir im Dorf, dass es ein paar Wegstunden von hier entfernt eine Klause im Wald gibt, um deren Pflege und Erhalt hauptsächlich du dich kümmern würdest. Und da ab morgen die ganzen Vertreter der anderen Gemeinschaften hier eintreffen werden, dachte ich mir, dass ich euch im Weg sein könnte. Deshalb erwägte ich, bis nach dem Treffen zu dieser Klause zu gehen. Als ich gestern Abend im Dorf laut über diese Möglichkeit nachdachte, empfahl man mir, mich diesbezüglich an dich zu wenden.«

Bevor Saibro etwas sagen konnte, hakte Apaquia ein: »Ganz recht. Da bist du bei Saibro genau an der richtigen Adresse.«

Saibro befürchtete Schlimmes: Sie wird doch nicht vorschlagen, dass er den Monakh dort hinbringen wird?

»Es wäre das Beste, wenn dich Saibro selbst dort hinbringen würde.«

Saibro wollte sich schon empört beschweren, da hörte er Apaquia weitersprechen.

»Aber das wird diesmal leider nicht gehen. Er ist zu sehr in die Vorbereitungen des Treffens eingespannt. Wir werden dir lediglich den Weg dorthin erklären können.«

Saibro atmete erleichtert auf. So gerne Apaquia ihn neckte, sie wusste auch genau, wo dieser Spass ein Ende hatte.

»Mehr verlange ich auch nicht.«

»Fein. Ich würde vorschlagen, dass Saibro dir den Weg aufzeichnet und erläutert, was es vor Ort zu beachten gibt. Währenddessen mache ich uns eine schnelle Zwischenmahlzeit. Ich habe schon wieder Hunger.«


Saibro hatte dem Monakh während des Essens den Weg zur Klause erklärt und räumte nun die Holzbretter, die Tiegel mit den verschiedenen Brotaufstrichen sowie den leeren Brotkorb ab. Er freute sich bereits darauf, dass sie ihren Gast in Kürze wieder los sein würden und er die Stunde bis er zum nächsten Vorbereitungstreffen musste, noch alleine mit seinem Sohn und seiner Liebsten verbringen konnte.

In der Hoffnung, dass der Monakh bei seiner Rückkehr schon gegangen sein würde, betrat Saibro mit den vom Tisch abgeräumten Sachen die Hütte. Die Tiegel verschloss er mit Holzdeckeln und brachte sie in die kühle Kammer im Keller. Den Brotkorb stellte er auf den Schrank der kleinen Küchenzeile und den Rest legte er in die Kiste, die Apaquia am Abend dem Spüldienst in den Dorfbau bringen würde. Er selbst hatte in seiner Hütte keine Küche. Ihm reichte es, wenn er in der Sommerzeit am Dorfplatz und in der kalten Jahreszeit in der Dorfhalle essen konnte. Stattdessen war seine Hütte eher eine Werkstatt mit einem Bett hinter einem Vorhang. Seit er mit Apaquia eine feste Liebesbeziehung eingegangen war, hatte er seine Hütte immer mehr zur Arbeitshütte werden lassen. Gemütliche wie auch intime Stunden hatten sie sowieso von Anfang an in aller Regel bei ihr verbracht – oder in der freien Natur. Vor einigen Wochen hatte er jedoch angefangen, seine Hütte umzugestalten. Nicht dass er an dem Zustand als Werkstatt prinzipiell etwas ändern wollte. Allerdings versuchte er die Hütte kindersicher zu machen. Er hatte einige Regale und Schränke gebaut, die es Sydän erst in vielen Jahren ermöglichen würden, an die Werkzeuge seines Vaters heranzukommen. Im Zuge dessen hatte er im unteren Teil eines Schrankes eine Schublade und ein Regalfach eingebaut, in die Sydäns altersgerechte Werkzeuge kommen würden. Er hatte auch schon hölzerne Nachbildungen von Werkzeugen besorgt sowie selbst einen kleinen Hammer aus Leichtholz gebaut. So plante er, seinem Sohn beizubringen, mit seinem eigenen Werkzeug zu spielen, während sein Vater mit den richtigen Gerätschaften hantierte.

In der Hoffnung, dass der Monakh nun wieder weitergezogen sei, trat Saibro vorsichtig zuversichtlich aus der Hütte. Seine gute Laune war jedoch sofort wieder verflogen, denn der Monakh saß nach wie vor neben Apaquia auf der Bank. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft.

»… sodass wir weder in Hainrod noch in einer der umliegenden Gemeinschaften Waffen haben«, hörte er Apaquia noch sagen.

»Aber was passiert, wenn ihr angegriffen werdet?«, fragte der Monakh.

»Das würde sich dann zeigen. Kämpfen werden wir jedenfalls nicht.«

»Was? Aber so droht euch doch mindestens mal der Verlust eurer Besitztümer, wenn nicht sogar die Versklavung oder schlimmer noch: der Tod!«

»Das ist natürlich richtig. Aber halte uns nicht für töricht. Wir werden natürlich versuchen Leib und Leben zu schützen. Es gibt sehr wirksame Verteidigungsübungen, die hier alle zumindest in ihren Grundzügen beherrschen. Außerdem kennen wir uns gut in unseren Wäldern aus und würden versuchen, dort Schutz zu finden. Laakso wird nicht umsonst auch Waldland genannt.«

»Entschuldige meine Fassungslosigkeit, aber …«

»Ja? Was sollten wir deiner Meinung nach tun, wenn sich Fremde für unser Hab und Gut derart interessieren, dass sie sich selbst herabwürdigen und uns angreifen?«

Der Monakh rang nach Worten. Doch als er keine fand, sprach einfach Apaquia weiter: »Ich hoffe … wir hoffen, dass unsere bescheidene Lebensweise, der Verzicht auf Prunk, Geschmeide und großes Gehabe, uns auch ein Stück weit uninteressant für fremde Aggressoren macht.«

Hier hakte der Monakh ein: »Aber ihr habt immerhin Land … und euch selbst. Viele Völker schätzen die Dienste von Sklaven.«

»Was dieses Land anbetrifft, so sehen wir es nicht als unser Land. Das Land gehört sich selbst und wir leben hier. Einst hatte sogar der Regent von Zissalia dieses Land auf dem wir leben sowie den ganzen Rest von Laakso zu seinem Staatsterritorium erklärt. Obwohl Zissalia nicht mal eine benachbarte Region von Laakso ist. Diese vermeintliche Angliederung ereignete sich vor über zweihundert Jahren und dauerte einige Jahrzehnte an. Der Regent von Zissalia setzte einen Statthalter ein und wollte in Laakso Steuern erheben. Viel kam für ihn dabei nie herum. Allerdings leben die Nachfahren dieses Statthalters heute noch in unseren Gemeinschaften. Einige Abenteuerlustige aus Laakso machten sich immer wieder auf, um sich Zissalia mit eigenen Augen anzusehen. Heute ist Zissalia eine etablierte Demokratie. Und wenn es dich mal dorthin verschlagen sollte, wundere dich nicht, wenn in den Chroniken des Landes einige Demokraten und Demokratinnen der ersten Stunde typische laaksonische Namen tragen.«

»Da habt ihr damals nicht nur Geschick bewiesen, sondern auch richtig Glück gehabt«, stellte der Monakh fest. »Wie habt ihr den Statthalter auf eure Seite bekommen?«

»Darüber weiß ich nicht viel. Nur dass es heißt, dass der beharrliche Ungehorsam der Menschen von Laakso diesen Statthalter mürbe gemacht haben soll. Und bewaffnete Kämpfer hatte er nur eine Handvoll zu seinem eigenen Schutz. Es gab da irgendwelche Abkommen mit umliegenden Ländern …«

Nun wurde es Saibro zu bunt. »Sei mir bitte nicht böse, aber gegenwärtig ist die Zeit, die ich mit meinem Sohn und seiner Mutter verbringen kann, recht …«

»Aber natürlich mein Lieber«, wiegelte der Monakh sogleich ab. »Das versteh ich doch. Ich wollte auch nicht lange bleiben. Schließlich möchte ich die Klause auch gerne noch im Hellen erreichen. Gepackt habe ich, Tuhan sei Dank, immer recht schnell. Ich möchte allerdings noch einige Lebensmittel mitnehmen.«

»Nimm lieber auch noch Kerzen mit. Bei meinem letzten Besuch dort, war der Vorrat schon nicht mehr so üppig.«

»Danke für den Hinweis, Saibro. Ich wünsche euch ein gutes Treffen und möge es in Harmonie verlaufen.«

»Danke«, brummte Saibro und Apaquia lächelte milde.

Kapitel 8

Saibro biss herzhaft in seine Stulle. Er hatte sich erschöpft, aber zufrieden unter die große, alte Eiche zurückgezogen, um dort eine wohlverdiente Zwischenmahlzeit einzunehmen.

Gleich würden ihre ersten Gäste eintreffen. So weit er es einschätzen konnte, waren sie mit ihren Vorbereitungen für das jährliche Treffen der umliegenden Gemeinschaften rechtzeitig fertig geworden. Falls man bei so etwas jemals fertig werden konnte. Saibro jedenfalls, fielen spontan mindestens ein gutes Dutzend Sachen ein, die sie noch hätten tun können. Er schob diesen Gedanken zur Seite und blickte zum Gebäude der Schola hinüber. Die knorrige Eiche, die auch das Eichmal genannt wurde und ihm derzeit als Rückenlehne diente, stand auf einer kleinen Insel, die westlich an das Gelände der Schola angrenzte. Sie war über ein paar große, flache Steine an einer seichten Stelle des Baches zu erreichen, der sich durch Hainrod schlängelte. An dieser Stelle gabelte er sich und verlief um eine leichte Anhöhe herum, hinter der sich seine beiden Arme wieder vereinten. Von seinem Sitzplatz aus hatte Saibro einen guten Blick hinüber zum Dorfbau wie auch zu der zwischen Schola und dem Dorfplatz gelegenen Kreuzung. Die vom Fluss heraufkommenden Gäste würde Saibro von hier aus zwar nicht sehen können, aber er rechnete zum jetzigen Zeitpunkt eher mit den Leuten aus Weidenbach und Schiefmayen, deren Dörfer nördlich von Hainrod lagen. Aber eigentlich war es ihm derzeit ziemlich egal, wer wann und von wo eintreffen würde. Die meisten seiner Aufgaben hatte er als Mitglied der Vorbereitungsgruppe bereits in den Wochen und Monaten zuvor zu erledigen gehabt. Während des Treffens hatte er sich lediglich zu ein paar Spüldiensten eingetragen, und einmal zum Putzen und Kontrollieren der zusätzlich aufgestellten Kompostklos. Wenn ihm danach wäre, würde er Apaquia auch den Gefallen tun und zumindest zu einer der zahlreichen Kleinrunden gehen, wie sie es sich von ihm gewünscht hatte. Er war allerdings der Meinung, durch die unzähligen Vorbereitungstreffen in letzter Zeit mehr als genug diskutiert zu haben. Zu der Kleinrunde über die Idee mit dieser Akademie würde er indes hingehen, die die Leute aus Laisingen besprechen wollten. Seitdem Apaquia von dieser Vorankündigung gehört hatte, hatte sie in den vergangenen Tagen so oft und so voller gespannter Erwartungen davon gesprochen, dass er inzwischen auch ganz neugierig geworden war. Ansonsten wollte er viel feiern, tanzen und mit alten Freunden quasseln. Und ganz besonders freute er sich auf das Spiel am nächsten Abend. Das würde ein großer Spaß werden.

Nachdem Saibro seine Stulle verputzt hatte, bekam er Durst. Darum kramte er aus seiner Umhängetasche seine Keramikflasche heraus und ging damit die wenigen Meter hinunter zum Bach. Dort angekommen zog er mit den Zähnen den Korken heraus, schwenkte die Flasche aus und ließ sie mit frischem Bachwasser volllaufen. Einen ersten großen Schluck nahm er gleich am Bach, dann ging er wieder zur Eiche hinauf. Als er sich wieder unter den Baum setzen wollte, sah er, wie Saja behände über die Steine der Furt hüpfte. Sie steuerte auf ihn zu. Saibro blieb stehen.

»Hallo Saibro.«

»Hallo.«

Saibro war argwöhnisch und fragte sich, was Saja von ihm wollte?

»Du brauchst nicht so zu schauen. Ich sah dich nur hier auf der Insel und dachte mir, dass ich auch eine Pause vertragen könnte. Darf ich mich zu dir setzen?«

Saibro atmete tief durch. Er hatte nichts vergessen und es war auch nichts schiefgegangen. Er setzte sich und zeigte neben sich.

Saja nahm das Angebot an und hockte sich mit überkreuzten Beinen und in Blickrichtung zur Dorfhalle ins Gras.

Saibro grübelte, ob ihm ihre Gesellschaft recht war? Im Grunde hätte er lieber seine Ruhe gehabt. Er merkte jedoch schnell, dass auch Saja nichts sagte und sie ihrerseits nur ihren Blick schweifen ließ. Da entspannte er sich, rückte ein wenig von der Eiche ab und legte sich rücklings in die Wiese.


Eine auf Saibros Nase landende Fliege weckte ihn. Leicht dösig wischte er sich die feuchte Stelle aus dem Mundwinkel. Als er sich beim Aufsetzen streckte, sah er, dass auch Saja eingeschlafen war. Er musterte sie. Eine Strähne ihrer langen hellblonden Haare war ihr ins Gesicht gefallen. Saja war zu einer hübschen jungen Frau geworden. Er erinnerte sich gut an das kleine, schüchterne Mädchen, welches sie noch vor nicht allzu langer Zeit war. Leicht verschämt wandte Saibro seinen Blick ab. Er hatte bemerkt, wie taktlos er ihre fraulichen Rundungen beäugt hatte.

Er stand auf und wollte gerade gehen, da hörte er Saja sagen: »Hey! Du willst mich hier scheinbar den kompletten Tag verpennen lassen?«

Saibro drehte sich zu ihr hin und erwiderte kleinlaut: »Du sahst so friedlich aus, da wollte ich …«

Saja lächelte und entgegnete nur: »Ist ja gut. Hilf mir aber wenigsten auf.« Sie streckte ihm ihre Hände entgegen.

Saibro kam sich unbeholfen vor, als er ihre Hände nahm und zog. Er hatte ihr Gewicht über und seine Kraft unterschätzt, sodass sie statt auf ihren Füßen, in seinen Armen landete. Saibro konnte den Druck ihrer Brüste an seinem Bauch spüren. Für einen verschwindend langen Moment schaute er direkt in ihre großen, himmelblauen Augen. Er wurde rot. Saja ebenfalls. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, trennten sich die beiden wieder von einander und brachten umgehend einen gewissen Abstand zwischen sich.

Verlegen schaute Saja in Richtung Dorfbau und sagte dann: »Oh! Schau, da sind schon die ersten Gäste.«

Saibro folgte ihrem Blick. »Ja, ich glaube, da erkenne ich jemanden aus Weidenbach. Lass uns mal rüber gehen.«

Saja nickte und marschierte los. Saibro bemerkte, dass ihr Becken beim Gehen sanft hin und her wogte. Er atmete tief durch, dann folgte er ihr; den Blick streng an ihr vorbei gewandt.


Auf dem Dorfplatz waren die vier Gäste aus Weidenbach bereits von Maatio und Eddia in Empfang genommen worden, sodass sich Saibro schon wieder abwenden wollte, da winkte ihn Maatio zu sich.

«Dies sind Ranus, Mauda, Pal und Sira aus Weidenbach.«

Saibro versuchte gar nicht erst, sich alle Namen zu merken und nickte ihnen nur lächelnd zu.

»Weißt du aus dem Kopf, wo sie ihr Zelt aufschlagen können?«, fragte Mattio.

»Ich denke schon. Soll ich euch schnell dorthin bringen?«

»Gerne«, antwortete die Frau, von der Saibro glaubte, dass sie Mauda hieß. »Dann können wir das mit dem Aufbauen der Zelte gleich hinter uns bringen.«

Saibro zeigte in Richtung Fluss. »Ihr habt die Schmiedewiese ganz für euch. Und das Badehaus liegt praktischerweise gleich nebenan. Kommt!«

Er wollte schon losgehen, da hörte er hinter sich Saja fragen: »Kann ich mitkommen?«

Saibro hatte ganz vergessen, dass sie ebenfalls da war. »Oh! Ähm … ja, klar.« .

»Ich bin übrigens Saja.« Sie gab allen nacheinander die Hand.

Saibro räusperte sich. »Wie dem auch sei: Los geht’s!«


»Wie war eure Anreise?«, fragte Saja.

»Hätte besser sein können«, antwortete Maudi. »Wir haben einen vollen Tag gebraucht und bis zur Nachtruhe hat es nur geregnet. Zum Glück liegt eure Klause auf dem Weg, da konnten wir die Nacht im Trockenen verbringen. Dort haben wir auch einen Mann getroffen, der uns sehr freundlich gesonnen war. Er teilte sein Essen und vor allem die Wärme in der Hütte mit uns.«

Saibro spürte, dass er ein Stück weit beruhigt war, dass der Monakh heil in der Klause angekommen war.

»Das ist Anaius. Er ist ein Monakh aus Majirani und derzeit bei uns zu Gast. Aber während des Treffens wollte er nicht im Weg sein. Doch das wird er euch bereits selbst erzählt haben, oder?«, sagte Saja.

»Ja, das hat er«, antwortete Maudi. »Hoffentlich bekommt er dort oben schnell wieder besseres Wetter. Nachdem wir heute Morgen schon eine gute halbe Stunde in strahlendem Sonnenschein unterwegs waren, konnten wir in der Ferne sehen, wie sich die dunklen Gewitterwolken so richtig über dem Wald mit der Klause festgesetzt hatten.«

Saibro fragte sich, ob er sich Sorgen um den Monakh machen sollte? Die Klause stand an einem Bach, der bei Dauerregen durchaus zu einem wilden Fluss anwachsen konnte. Er selbst hatte im letzten Jahr angefangen einen Deich anzulegen, nachdem ihnen die Klause in den vergangenen Jahren mehrfach abgesoffen war. Sie hatten schon überlegt, ob es besser wäre, die Klause ein paar Meter höher in den Wald zu versetzen. Aber der dazu nötige Aufwand hätte in keinem Verhältnis zum Nutzen gestanden. Außerdem hätten sie damit auch den wunderbaren Ausblick ins Tal unterhalb der Klause aufgeben müssen. Dazu hatten sie sich nicht durchringen können.

Er schob den Gedanken an den Monakh beiseite, denn sie waren am Zeltplatz der Weidenbacher Gruppe angekommen. Saibro wollte soeben mit der Einweisung beginnen, da kam ihm Saja zuvor: »Da sind wir. Hier könnt ihr eure Zelte aufschlagen. Rechts findet ihr unsere Schmiede, darum heißt die Wiese auch Schmiedewiese. Aber keine Angst, in der Zeit unseres Treffens wird dort nicht gearbeitet. Und hier links ist das Badehaus. Dort könnt ihr euch waschen und so. Gleich da unten fließt unser Dorfbach in den Fluss. Ein schöner Flecken, oder?!«

Die Vier nickten und bedankten sich für die Einweisung. Saja fragte, ob sie beim Aufbauen der Zelte helfen solle? Das Angebot wurde dankend angenommen. Und auch, wenn sich Saibro dadurch ein Stück weit verpflichtet fühlte, selbst mit Hand anzulegen, machte er sich von diesem Gedanken frei und sich mit einem Hinweis auf weitere Aufgaben von dannen.


»Hey Saibro! Alter Balkenbieger!« Diese Ansprache konnte nur von Einem stammen. Soeben war Saibro auf seinem Weg zum Dorfplatz an der Kreuzung zur Anlegestelle vorbeigekommen, da wurde unten am Fluss diese Begrüßung mit rauchiger Stimme krakeelt.

Saibro drehte sich um und setze seine finsterste Miene auf: »Schreck lass nach! Frato, du alter Wildschweinschleuderer. Haben sie dich wirklich aus Schaumach rausgelassen?«

Frato lachte kehlig auf und präsentierte offenherzig seine natürliche Lücke zwischen den Schneidezähnen. »Wer sollte mich aufhalten wollen? Die sind alle froh, dass sie mich für eine Weile los sind.«

Diese Unterhaltung wurde über eine Entfernung von gut zwanzig Meter hinweg geführt.

»Jetzt steh da nicht rum wie angewurzelt! Komm her und hilf mir meine Sachen zu tragen.«

Saibro verschränkte die Arme und verharrte ein paar Augenblicke, bis er dann betont aufreizend zur Anlegestelle hinunterschlenderte.

Frato stand dort mit den Händen in den Hüften und wartete unerschütterlich.

Wie sich die beiden Männer dann Auge in Auge gegenüber standen, fixierten sie einander eindringlich mit grimmigen Blicken, bis sie sich laut lachend in die Arme fielen.


»Bist du fit für das Spiel übermorgen?«, fragte Frato und versetzte dem neben ihm sitzenden Saibro einen prüfenden Hieb auf den Oberschenkel.

»Die Schnellkraft muss mit der Zeit der Erfahrung weichen, aber für dich reicht es allemal.«

»Das werden wir ja sehen. Ich habe gehört, dass Mano aus Hallach auch kommen soll, den müsst ihr erstmal in den Griff bekommen.«

Saibro gefiel dies ganz und gar nicht. Manos Ruf als ausgezeichneter Calcio-Spieler war fast schon legendär. Vor drei Jahren war dieser zum Treffen in Schiefmayen mitgekommen und hatte die einheimische Auswahl fast im Alleingang besiegt. Damals hatte sich Saibro über Manos Anwesenheit sehr gefreut, denn wie es die Tradition vorsah, hatte Saibro in der Calcio-Auswahl der Auswärtigen mitgespielt und als Stürmer sehr von dessen Spielintelligenz und Ballfertigkeit profitiert: Alle seine drei Tore hatte ihm Mano aufgelegt und die restlichen beiden zum 5:1-Sieg selbst erzielt.

»Das ist natürlich ein Pfund, das ihr da in die Waagschale werft. Aber unterschätzt uns bloß nicht! Wir haben einige wirklich talentierte Leute im Dorf. Besonders die junge Arana im Tor wird dich beeindrucken.«

»Wie ich dich kenne, hast du deine Calcio-Auswahl ordentlich im Training rangenommen«, lachte Frato lauthals.

»Kein Kommentar, mein Lieber. Kein Kommentar.«

»Schon gut, schon gut. Entscheidend ist auf'm Platz. Aber jetzt lass uns nicht weiter faul hier rumsitzen. Hilf mir lieber mein Zelt aufzubauen. Wo kann ich es hinstellen?«

»Wenn es dir recht ist, dachte ich, dass du es in meinen Garten stellen könntest.«

Frato lächelte Saibro mit strahlenden Augen an, stand von der Bank am Bootssteg auf, schulterte seinen Reisesack und stapfte wortlos vorweg.


Saibro und Frato kannten sich schon seit Jahren. Ihre Freundschaft beruhte auf einem mehrwöchigem Aufenthalt Saibros in Schaumach. Dort lebte Frato und gemeinsam halfen sie die Dorfhalle wieder aufzubauen, nachdem diese nach einem Blitzeinschlag niedergebrannt war. Es war durchaus üblich, dass sich die einzelnen Dörfer in solchen Notfällen beistanden, ob mit Arbeitskraft, Baumaterial oder mit ihrem Wissen.

Die raubeinige Art des hageren Mannes und seine große Klappe, hatten Saibro anfänglich abgeschreckt. Und als dieser ihn an einem arbeitsfreien Tag zu einer Wanderung auf einem nahegelegenen Berg einlud, hatte Saibro zunächst abgelehnt. Nachdem ein anderer Dorfbewohner jedoch die Aussicht von dem Berg in den höchsten Tönen gelobt hatte, änderte er seine Meinung und schloss sich Frato kurzerhand doch an. Auf dieser Wanderung lernte Saibro Frato ganz neu kennen. Er war ein intelligenter und weitsichtiger Mann, der tausend und eine Anekdote zu erzählen hatte, jedoch auch gut zuhören konnte. Ratschläge verkniff er sich zumeist und seine in Gesellschaft durchaus zotige Art, legte er in längeren Zwiegesprächen gänzlich ab.


»Und hier ist der Waschraum und das Abort«, schloss Saibro die kurze Einführung in seine Hütte ab.

»Schön hast du es hier. Danke nochmals, dass ich in deinem Garten zelten und vor allem, dass ich deinen Waschraum mitbenutzen darf.«

»Kein Problem. Wollen wir zum Dorfplatz laufen und schauen, wer sich da inzwischen alles rumtreibt?«

»Gerne. Was meinst du, ob Apaquia und dein Sohn auch dort sein werden? Ich möchte die beiden endlich mal kennenlernen.«

»Ich weiß es nicht. Aber Apaquia wohnt nur zwei Hütten weiter und um auf Nummer sicher zu gehen, sollten wir den Rundweg linksrum in Richtung Dorfplatz nehmen. Dann können wir schauen, ob die beiden dort sind.«

»Habt ihr schon mal überlegt, ob du oder Apaquia mit der Hütte zwischen euch tauschen könnte?«

»Nicht wirklich. Mir ist das ganz recht so. Ansonsten geht das ganz schnell in Richtung irgendwelcher kleinfamiliären Strukturen. Insbesondere jetzt, da Sydän auf der Welt ist.«

»Damit hast du vermutlich recht. Da leiden schnell alle darunter. Bei diesen Beziehungsstrukturen von Vater, Mutter und Kind geht zuerst die Arbeitsteilung und später die Gleichberechtigung flöten.«

»Und dann leiden die Beziehungen zu den anderen.«

»Da wir schon von anderen sprechen: Kristallisieren sich bereits irgendwelche Bezugspersonen für euren Sohn heraus?«

»Als uns klar wurde, dass Apaquia wahrscheinlich schwanger ist, haben wir mal darüber gesprochen. Seither aber nicht mehr. Da sie mir sehr nah ist, hatte ich auch mal an meine Schwester gedacht, doch sie hat so gar keinen Sinn für die Erziehung von Kindern. Und Gygoy ist mir zu unzuverlässig. Ich weiß es nicht. Vielleicht kann ich es gegenwärtig auch noch gar nicht wissen? Denn nicht nur zwischen der Bezugsperson und beiden Eltern muss es passen, sondern auch zwischen ihr und dem Kind.«

Frato nickte, schien aber mit den Gedanken schon wieder weiter zu sein: »Führen Apaquia und du eigentlich eine offene Beziehung? Wenn ich das derart ungeniert fragen darf?«

Saibro runzelte leicht die Stirn. Er hatte nichts dagegen mit Frato über solche Themen zu reden, aber derzeit stand ihm der Sinn eher nach Klamauk und wenig geistreichen Vergnügungen. Er antwortete trotzdem: »Nein, wir sehen unsere Liebesbeziehung nicht als offen an. Ich bin dafür einfach nicht der Typ. Im Gegensatz zu mir, könnte Apaquia das hinbekommen. Sie kann auch komplexe Beziehungen überblicken und könnte für den nötigen Austausch sorgen. Ich bin dafür zu maulfaul.«

Saibro machte eine kurze Pause und als er merkte, dass Frato nicht weiter nachhakte, machte er den Vorschlag: »Aber lass uns lieber ein andermal darüber sprechen. Ich würde jetzt wirklich gerne aufbrechen.«

Frato nickte und steuerte auf die offen stehende Hüttentür zu. Draußen angekommen, blieb er stehen und fragte: »Ihre Hütte liegt linksrum, hattest du gesagt, oder?«


Als Frato und Saibro an Apaquias Hütte ankamen, saß Saja davor auf der Bank. Sie schaukelte Sydän in ihren Armen.

»Oh! Apaquia ist deutlich jünger …«

»Das ist nicht Apaquia!«, stoppte Saibro seinen Freund und schaute ihn verstört an.

Nun bemerkte auch Saja die Neuankömmlinge und zischte ihnen zur Begrüssung ein Pssst! entgegen. Die Männer traten zu ihr und dem Säugling.

Flüsternd fragte Saibro: »Wo ist Apaquia?«

»Sie wollte sich mal im Dorf umsehen.«

»Und du? Wie …?«

»Ich dachte mir«, plapperte Saja in Saibros Frage hinein, »dass sie Lust dazu haben würde. Da bin ich zu ihr und habe ihr angeboten, eine Weile auf den kleinen Sydän aufzupassen. Aber jetzt werde ich ihn in seine Wiege legen. Er ist nun endlich eingeschlafen.«

»Gut. Na, dann … gehen wir mal weiter«, sagte Saibro.

Saja stand auf und ging mit Sydän in die Hütte.

Frato zuckte knapp mit den Schultern und grinste Saibro vielsagend an.

»Was?«

»Nichts mein Lieber. Nur …«

»Nur?«

»Sprachen wir nicht eben erst von möglichen Bezugspersonen für euren Kleinen?«

»Saja? Die ist doch selbst noch fast ein Kind!«

»Ja, klar!« Frato grinste über das ganze Gesicht, als er Saibro einfach stehen ließ und Richtung Dorfmitte schlenderte.

Saibro schaute abermals Richtung Hütte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er seufzte, dann ging er Frato hinterher.

Kapitel 9

Das Spiel hatten sie nur knapp verloren. Dank Arana, die Mano mit ihren Paraden fast zur Verzweiflung gebracht hatte. Saibro hatte sogar wie aus dem Nichts die Führung für die Auswahl von Hainrod erzieht. Diese hielt jedoch nicht lange und als alle bereits von einem schiedlich-friedlichen Unentschieden ausgegangen waren, zauberte Mano einen Kunstschuss ins Hainröder Tor. Als Frato daraufhin, statt mit seinem Kollektiv zu jubeln, grinsend an ihm vorbei flanierte, hätte Saibro ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern verpasst. Doch als sie kurz darauf verschwitzt in den Teich an Raaisis Haus gesprungen waren, ließ sich Frato bereitwillig einmal richtig untertauchen. Dies reichte Saibro an Wiedergutmachung, denn er wollte sich durch solch eine Kleinigkeit wie ein verlorenes Calcio-Spiel nicht den Abend verderben lassen.

Die gefeierte Heldin des Abends war Arana – trotz der Niederlage. Allen voran huldigte ihr Mano. Er wirkte fast so, als hätte er sich in Arana verguckt. Der zurückhaltenden Arana schien die ganze Aufmerksamkeit allerdings eher unangenehm und so wunderte sich Saibro auch nicht sonderlich, als sie die Feier recht früh verließ.


Am nächsten Morgen bekam Saibro ein warmes Päckchen ins Bett gelegt. Es war sein Sohn. Der Vaterstolz war eine gute Therapie gegen seinen Muskelkater. Apaquia gab ihm noch einige Anweisungen, dann war sie auch schon weg und die Männer unter sich. Saibro kuschelte eine Weile mit seinem Sohn, dann raffte er sich auf. Nach einem kurzen Besuch im Waschraum, ging er mit Sydän im Arm hinaus zu Fratos Zelt.

»Frato? Schläfst du noch?«

»Jetzt nich' mehr.«

»Der Waschraum ist frei. Ich mache Gerstentee. Magst du auch einen?«

Statt einer Antwort bekam er lediglich ein Brummen zu hören, welches er als Zustimmung deutete. Kaum hatte Saibro das Feuer in seinem Ofen neu angeschürt und den Wasserkessel aufgesetzt, war Frato auch schon in den Waschraum geschlüpft. Während er auf das Wasser und seinen Freund wartete, widmete er sich wieder seinem Sohn.


Nachdem sie sich mit einem Gerstentee gestärkt hatten, gingen Frato und Saibro mit Sydän zum Morgenmahl. Viele waren nicht mehr dort, da die Kleinrunden bereits begonnen hatten. Das Buffet war zwar schon ordentlich geplündert, doch fanden sie nach wie vor ausreichend Leckereien für ihr Morgenmahl. Saibro hatte sich Sydän in einem Tuch vor den Bauch gebunden, was für ihn zwar nicht mehr gänzlich neu war, ihn aber beim Essen noch immer behinderte.

»Das kann man ja nicht mit ansehen«, sprach eine Stimme hinter Saibro. Es war Saja. »Komm, ich nehme Sydän, solange du isst.«

»Oh … das ist sehr nett von dir.«

»Mach ich doch gerne.«

Nachdem Sydän den Bauch gewechselt hatte, ging Saja singend über den Dorfplatz.

»Nettes Mädchen«, kommentierte Frato.

Saibro nickte, fühlte sich jedoch auch etwas unbehaglich.

»Zu nett?«, fragte Frato hinterher.

»Bitte?«

»Ob du sie vielleicht etwas zu nett findest?«

»Nein, nein. Also … natürlich ist sie nett. Es ist nur so, dass dieses Mädchen vor nicht allzu langer Zeit in meinem Leben kaum stattfand und nun ist sie plötzlich überall.«

»Und du weißt nicht, was du davon halten sollst?«

»Genau.«

Frato schwieg nun und Saibro musste immer wieder zu Saja mit seinem Sydän schauen.


Nachdem Morgenmahl hatte sich Frato abgesetzt. Er wollte in ein paar Kleinrunden reinschnuppern.

Saibro hatte sich seinen Sohn wiedergeben lassen und machte sich auf die Suche nach Apaquia. Sydän war quengelig geworden und wollte gewiss gefüttert werden. Dafür war derzeit aber nach wie vor seine Mutter vonnöten. Als er über den Anger lief, dem Ort an dem die meisten Zelte für die Kleinrunden standen, war es unverkennbar: Sydän hatte Hunger. Er plärrte. Und half damit seine Mutter zu finden. Denn kaum, dass sie am zweiten Zelt vorbeikamen, kam ihnen Apaquia entgegengeeilt.

»Na, mein kleiner Schatz, dass du Hunger hast, wissen jetzt aber auch restlos alle.«

Sie gab Saibro einen Kuss und ließ sich ihren Sohn aushändigen.

Gemeinsam gingen sie einige Schritte von den Zelten weg und setzten sich auf einen am Rande des Angers liegenden Baumstamm. Während sein Sohn trank, bekam Saibro einen Kurzabriss dessen, was Apaquia bisher alles gehört und erlebt hatte. Sie war in ihrem Element und genoss diese Zeit mit den vielen anderen Menschen aus der Region sehr.

»Nachher ist die Kleinrunde zur Akademie. Saja hat sich bereiterklärt, Sydän in der Zeit zu nehmen. Wir können somit gemeinsam dort hingehen. Du kommst doch mit, oder?«

Saibro schnaufte. »Dir zu liebe.«

»Ich weiß, mein wilder Calcio-Held.«

»Held? Ich?«

»Hast du das Tor für Hainrod geschossen oder hast du nicht?«

»Habe ich. Aber trotzdem haben wir …«

»Mir doch egal! Du bist dennoch mein Held.«

Saibro fühlte sich geschmeichelt und damit konnte er wirklich nicht gut umgehen.

Apaquia legte ihren Kopf an seine Schulter. Derart saßen sie eine Weile schweigend da.


»Das Prinzip ist ganz einfach. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem wir unser Wissen zusammentragen, daraus unsere Lehren ziehen, es verbessern und wieder weitergeben. Wichtig ist dabei, dass immer frisches Wissen aus ganz Laakso in die Akademie einfließt, aber gerne auch aus anderen Regionen und Ländern«, erläuterte Jiwe.

»Tolle Idee!«, hörte Saibro Apaquia neben sich raunen.

Jiwe lehrte ebenso an einer Schola wie Apaquia, nur eben an der von Laisingen.

»Und wo soll dieser Ort sein?«, hörte sich Saibro auf einmal fragen.

Er saß zusammen mit Apaquia und einem guten Dutzend anderer Leute in der Kleinrunde zum Thema Akademie. Die wenigsten der anderen konnte er zuordnen. Ranus und Sira aus Weidenbach erkannte er wieder und aus Hainrod war Apaquias Kollege Ruisto da. Außerdem hatte sich Frato ihm und Apaquia angeschlossen. Das Wetter hatte gehalten und dank der frühsommerlichen Wärme, hatten sie die Runde aus dem vorgesehenen Zelt auf die Wiese davor verlegt.

»Eine gute Frage, Saibro«, antwortete Jiwe. »Uns sind da bereits verschiedene Optionen eingefallen. Wenn die Zeit reicht, würde ich diese gerne heute mit euch diskutieren. Mein Favorit … aber ich will nicht vorgreifen.«

»Warum nicht?«, fragte ein Mann, dessen Name sich Saibro nicht gemerkt hatte, von dem er jedoch annahm, dass er ebenfalls aus Laisingen stammte.

»Also gut, mit eurem Einverständnis …« Jiwe machte eine kurze Pause und schaute abwartend in die Runde. »Es ist eine Möglichkeit, die Akademie in einem kleineren, zentral in Laakso gelegenem Dorf anzusiedeln.«

»Damit ist Hainrod aus dem Rennen«, dachte Saibro. Es konnte zwar durchaus als zentral gelegen gelten, aber nicht unbedingt als klein. Im Gegenteil: Wenn es weiteren Zuwachs bekäme, würde es wahrscheinlich Sinn machen, es zu teilen und in der Nähe eine neue Siedlung auszugründen. So waren etliche Dörfer in Laakso entstanden. Denn die Erfahrung lehrte, dass bei Dörfern mit mehr als 150 Bewohnern und Bewohnerinnen der unmittelbare Austausch zwischen den Menschen nicht mehr gut funktionierte. Die gefühlsmäßige Bindung zwischen einigen ging dann oftmals verloren und das Zusammenleben im Dorf litt darunter merklich.

»Eine andere ist es, ein großes Dorf zu teilen und in der neuen Siedlung die Akademie unterzubringen. Das ist mein persönlicher Favorit«, sprach Jiwe weiter.

Damit war Hainrod wieder im Rennen.

»Darum würde ich gerne nach dem Treffen noch eine Weile hier in Hainrod bleiben.«

Saibro wurde flau im Magen. Er vermutete schon länger, dass eine Teilung Hainrods noch zu seinen Lebzeiten ein Thema werden könnte. In seiner Vorstellung sah er sich jedoch immer als alten Mann damit herumschlagen.

»Du bist herzlich eingeladen, unsere Gästin zu sein«, hörte Saibro Apaquia neben sich sagen. Er sank innerlich in sich zusammen.


»Jetzt komm mal wieder runter. Ist doch erstmal nur eine Idee.« Apaquia versuchte Saibro zu beruhigen.

Doch er wollte sich nicht beruhigen lassen. »Eine Idee, die du klasse findest!«

Apaquia widersprach nicht. »Na, du musst schon zugeben, dass es eine spannende Sache ist: Ein neues Dorf aufbauen und dazu noch eine Akademie.«

»Ja, und ich muss mich dann zwischen dir und Hainrod entscheiden.«

Auch hierzu bekam Saibro keine Widerworte zu hören.

Saibro reichte es: »Ich muss mir die Beine vertreten.«

Er ließ Apaquia am Rande des Angers stehen und marschierte los.


Nach einer Weile merkte er, dass seine Füße ihn vorbei am Kontor und dem Holzwerk in östlicher Richtung aus dem Dorf hinausgetragen hatten. Er spazierte eine gute Stunde durch den Wald, immer am Nagare entlang. Er hatte schon fast Fiskstedt erreicht, da hockte er sich auf einen großen Stein am Ufer und leerte seine Gedanken. Irgendwann stand er auf und ging zurück. Sein Schritt wurde immer schneller, nach kurzer Zeit rannte er.


Schweißnass und erschöpft kam er an seiner Hütte an. Auf den ersten Blick erkannte er, dass Fratos Zelt abgeschlagen war. Er bekam einen Schreck. Doch da entdeckte er, dass dessen Sachen vor der Hütte standen. Demnach war sein Freund noch nicht abgereist. Zum Glück! Wie die meisten war er fraglos bei Teyats Theaterstück. Saibro war nicht traurig, nicht dabei zu sein. Was er allerdings gewesen wäre, hätte er die Abreise Fratos verpasst. Saibro ging hinter seine Hütte und wusch sich kurz im Bach. Dann holte er sich eine Decke, einen Becher Zoete-Saft mit Wasser und einen Apfel. Die Decke breitet er auf der Wiese neben seiner Hütte aus und nachdem er sich gestärkt hatte, schlief er von einer Weide beschattet ein.


»Schön, dass du ein paar weitere Tage bleibst«, sagte Saibro zu Frato.

»So kann ich noch beim Aufräumen helfen. Auch wenn sich mal wieder alle übertroffen und kaum Dreck oder Unordnung gemacht haben.«

Gemeinsam hockten sie hinter Saibros Hütte und ließen ihre Füße im Bach baumeln. Frato streckte Saibro seinen Krug entgegen, woraufhin dieser prompt seinen kräftig an den seines Freundes stieß. Der Kruid-Saft war angenehm kühl und schmeckte fruchtig-herb.

Frato hatte Saibro unlängst geweckt und ihm verkündet, dass er sich spontan entschieden habe, noch einige Zeit in Hainrod zu bleiben. Jedoch wollte er nicht mehr im Zelt schlafen, sondern ins Gästehaus umziehen. Etwas mehr Komfort wäre in seinem Alter langsam kein Luxus mehr.

Saibro wurde bewusst, dass er Fratos Alter gar nicht kannte. Er vermutete, dass er älter als er selbst war. Aber um wie viel? Darüber konnte Saibro nur spekulieren, denn fragen wollte er ihn auch nicht. Irgendwie machte Frato mit seiner strubbeligen Mähne auf ihn einen alterslosen Eindruck und das wollte sich Saibro durch eine schnöde Zahl nicht kaputt machen lassen.


Nachdem sie eine Zeit lang schweigend da gesessen hatten, fragte Frato: »Soll ich nachher mal zwischen deiner Liebsten und dir vermitteln?«

»Woher weißt du …?«

»Sie hat es mir erzählt.«

Saibro war das unangenehm und so versuchte er die Antwort schuldig zu bleiben. Scheinbar wollte Frato ihm das auch durchgehen lassen. Doch statt sich zu verflüchtigen, wurde das Thema in Saibros Kopf immer gegenwärtiger.

»Sie ist derart begeistert von dieser Akademie! Sie will dabei mitmachen. Da bin ich mir sicher. Aber ich will hier nicht weg. Und ich will auch nicht, dass sie hier weg will.«

»Das ist eine verzwickte Situation«, stellte Frato fest.

Saibro nickte, trank einen kräftigen Schluck und war sich sicher, dass sein Freund mit dem Thema beileibe nicht durch war.

Nachdem einige Minuten vergangen waren, griff Frato den Gesprächsfaden wieder auf: »Teilst du meine Ansicht, dass du dir mit deiner kleinen Flucht einen Bärendienst erwiesen hast?«

»Ich würde es anders ausdrücken«, grummelte Saibro.

»Während du weg warst, hat es eine weitere Gesprächsrunde zum Thema Akademie gegeben. Apaquia war natürlich auch dabei und ist jetzt auch fest in der Arbeitsgruppe Akademie. Sie gehört zu den Leuten, die sich mit den wissenschaftlichen Arbeitsfeldern dieser neuen Form von Schola beschäftigen.«

»Sie ist also fest dabei?!«

»Das meinte ich mit Bärendienst

Saibro verstand und nickte.

»Ich bin übrigens auch dabei.«

»Du?« Damit hatte Saibro nicht gerechnet.

»Ja, ich«, antwortete Frato. »Die Akademie ist zwar eine gute Idee, interessiert mich allerdings nur am Rande. Ich finde den Gedanken reizvoll, eine neue Siedlung aufzubauen. Wir waren uns in der Gruppe recht einig, dass wir diese Akademie-Siedlung hier in der Nähe errichten wollen. Gerade so weit von Hainrod entfernt, dass sie nicht zu nah aneinander gelegen sind, es aber trotzdem eine enge Bindung zwischen den Siedlungen geben kann. Mir persönlich schwebt eine ungefähre Entfernung von ein bis zwei Wegstunden vor.«

Saibro schwirrte nun derart viel im Kopf herum, dass er dies alles zunächst für sich sortieren musste. Fratos Sichtweise auf das Projekt gefiel ihm, denn er musste sich eingestehen, dass auch er den Gedanken reizvoll fand, mit anderen eine ganz neue Siedlung aufzubauen. Das war schon etwas anderes, als in Hainrod jeden Tag Kleinigkeiten zu reparieren und alle paar Jahre mal mit anderen eine Hütte zu errichten. Er merkte, wie er zunehmend Lust darauf bekam, mit Frato und Apaquia eine neue Siedlung sowie diese Akademie aufzubauen. Und die von Frato genannte Entfernung zu Hainrod hörte sich auch wahrlich nicht schlimm an.

Nachdem sie nun eine Weile still in den Bach geblickt hatten, legte Frato Saibro seine Hand auf die Schulter. »Geht es dir wieder besser? Du siehst zumindest so aus.«

Saibro nickte.

»Schön. Dann kann ich dir auch den Grund verraten, warum ich noch hierbleibe: Die Siedlungsgruppe hat mich beauftragt, die Suche nach einem geeigneten Standort zu koordinieren. Einige Gedanken dazu, was einen solchen Ort ausmachen sollte, habe ich mir schon gemacht. Doch nur mit deiner Ortskenntnis kann ich mir vorstellen, den bestmöglichen Standort zu finden. Darum wollte ich dich fragen, ob du in den nächsten Tagen Zeit und Lust hast, mit mir durch die Gegend zu wandern?«

Saibro lächelte. Ja, dazu hatte er Lust. »Das können wir gerne tun. Ich habe da auch schon zwei oder drei spontane Ideen für einen geeigneten Standort. Oder sagen wir mal: für Orte, an denen ich es selber schön finde und an denen sich gut und gerne eine neue Siedlung gründen ließe. Ich weiß jedoch zu wenig darüber, welche speziellen Anforderungen solch eine Akademie mit sich bringt.«

»Das wissen wir alle nicht wirklich. Obwohl? Dazu hat sich Jiwe zweifelsohne auch schon reichlich Gedanken gemacht. Sie ist ebenfalls hier geblieben und wenn du willst, können wir uns nachher mal zusammensetzen. Apaquia würde ich ebenfalls dazu bitten.«

Saibro stimmte dem Vorschlag zu. Wenn auch mit einem beklemmenden Gefühl in der Magengegend. »Zuvor sollte ich allerdings mit ihr reden.«

Frato zog eine Augenbraue hoch und pflichtete ihm bei: »Das solltest du. Ich denke, dass sie in ihrer Hütte ist und auf dich wartet.«

Saibro schaute seinem Freund in die Augen. »Warum werde ich das Gefühl nicht los, irgendwie manipuliert worden zu sein?«

Frato lachte kehlig. »Zuviel der Ehre, mein Guter. Natürlich hatte ich den Wunsch, dass du mich bei der Suche unterstützt. Und es ist auch wahr, dass ich Apaquia den Vorschlag gemacht habe, dass sie erst einmal mich mit dir reden lassen soll. Aber wo darin der Manipulationsversuch liegen soll, das ist mir ein Rätsel.«

Saibro ließ ihm die diebische Freude, die das Strahlen in seinen Augen nur allzu deutlich verriet. »Dann überlasse ich dich mal dir selbst und schau nach Apaquia … und meinem Sohn.«


Saibro klopfte mit einem sehr flauen Gefühl im Magen an Apaquias Tür. Was allerdings nicht nötig gewesen wäre. Nachdem sie die Tür aufgemacht hatte, brauchte sie nur einen kurzen Blick in seine Augen, um sich sogleich in seine Arme zu werfen.

Kapitel 10

»Schau genau hin. Da oben siehst du die Klause bereits.«

Frato versuchte Saibros Fingerzeit zu folgen und kniff dazu seine Augen zu Schlitzen zusammen. »Wo? Ich sehe nur Bäume.«

»Aber dort ist auch eine Lichtung. Da oben!«

Frato zuckte mit den Schultern. »Mag sein, aber … ah! Jetzt.« Das ihm so eigene Lächeln erhellte sein Gesicht.


Sie waren schon fast den ganzen Tag unterwegs und hatten sich doch erst drei der Saibros Meinung nach fünf in Frage kommenden Standorte für die Ansiedlung der Akademie angesehen. Das Tal mit dem als nächstes zu besichtigenden Ort lag unweit von ihrer Waldklause entfernt. So dass es Saibro folgerichtig erschien, dort die Nacht zu verbringen und die letzten beiden in Betracht kommenden Standorte am nächsten Tag bei guten Lichtverhältnissen und mit frischen Kräften zu begutachten. Und doch hatte Saibro gezögert, Frato den Vorschlag mit der Übernachtung in der Klause zu unterbreiten, denn dort würden sie wahrscheinlich auch auf den Monakh treffen und auf diese Begegnung war er nicht gerade erpicht. Aber seine Beine signalisierten ihm eindringlich, dies zu tun und Frato war sofort einverstanden. Er meinte, inzwischen habe er schon einiges über diesen Monakh gehört, da wollte er sich ganz gerne sein eigenes Bild von dem Mann machen. Das war eine der Eigenschaften, die Saibro sehr an Frato schätzte: Er begegnete allem, was er nicht kannte, sehr offen, aufgeschlossen und voller Neugier.


»Ein paar gute Standorte hast du da übrigens ausgewählt«, sagte Frato zu Saibro, als sie sich auf dem letzten Anstieg zur Klause befanden. »Alles Wichtige war da: Wasser, Wald und Wiesen. Beim letzten hat mir aber besonders gut gefallen, dass sich da auch ein Steinbruch anlegen lässt. So müssen wir nicht immer alles aus dem in Hainrod dort hinkarren.«

»Ach! Auch bei den anderen können wir einen Steinbruch anlegen. Nur eben nicht ganz so nah am Ort. Was wiederum zum Vorteil hätte, dass das Hämmern und Klopfen nicht beim Arbeiten und Lernen stören würde.«

»Stimmt auch wieder. Aber wie schätzt du an dem zweiten Ort die Hochwassersicherheit ein?«

»Das könnte zu einem Problem werden. Der Bach dort wird aus einer deutlich höheren Quelle gespeist als der in Hainrod. Der Erste liegt am gleichen Flussarm wie Hainrod und durch ihn gibt es bei uns nur selten ein Problem.«

»Und der dritte?«, fragte Frato.

»Gleicher Bach wie in Hainrod. Ist unproblematisch.«

»Wenn ich ehrlich bin, ist der dritte mein aktueller Favorit. Aber mal abwarten, was du für morgen ausgewählt hast.«

Saibro lächelte. »Nichts was uns die Entscheidung erleichtern wird. Obwohl? Wenn ich es mir recht überlege: Ich denke, dass mein Favorit morgen erst kommen wird. Da ist eine halbe Stunde westlich von Hainrod so ein kleiner Hain an einem Bach. Atemberaubend!«

»Ich bin gespannt.« Frato legte seine Hand freundschaftlich auf Saibro Schulter.

Saibro vermutete, dass er dies auch tat, um einmal richtig durchschnaufen zu können. »Noch um diese Biegung herum und da liegt auch schon die Klause.«

Freudig dreinblickend und mit einem tiefen Seufzer, nahm Frato ihren Weg wieder auf. Saibro folgte ihm.

Als sie um die Ecke kamen, sah Saibro sogleich, dass die Tür der Klause nur angelehnt war. Auf ihr Klopfen bekamen sie von drinnen keine Antwort und somit traten sie ein. Sie fanden die Hütte verlassen vor. Die Klause bestand im Großen und Ganzen aus zwei Räumen. Der kleinere war ein reiner Schlafraum mit zwei Betten. Im Hauptraum befand sich eine Koch- und eine Sitzecke, sowie die Möglichkeit weitere Schlafplätze zu schaffen. Die Einrichtung war weitestgehend auf das Notwendigste beschränkt.

Nachdem Frato seine Sachen abgestellt hatte, ging er zum Kamin. Er warf einen prüfenden Blick hinein und befühlte ein halb verkohltes Stück Holz und stocherte in der Asche herum. Anschließend ging er zu einem Krug mit Wasser, der auf dem Tisch stand und roch daran. Dann probierte er einen Schluck davon. Sein nächster Weg führte ihn zum Brotkasten, wo er die Schnittstelle des Brotes befühlte. Daraufhin beute er sich zur neben dem Brotkasten stehenden Käseglocke und schnüffelte daran, während er deren Deckel hob. Als er mit alledem fertig war, wandte er sich an Saibro: »Ich würde sagen, dass hier seit mindestens einem Tag niemand mehr war. Und wenn nicht nach wie vor seine Sachen überall herumliegen würden, hätte ich darauf getippt, dass der Monakh einen Ausflug macht oder sogar bereits abgereist ist. So aber sollten wir uns auf die Suche nach ihm machen. Nicht dass ihm etwas zugestoßen ist!«

Saibro seufzte. »Meine Füße und ich hatten uns sehr auf einen gemütlichen Abend am Kamin gefreut. Die Fackeln sind in der Abstellkammer. Lass uns mit der Suche hinter dem Haus am Bach beginnen. Hoffentlich ist er nicht dort hinein gestürzt. So viel Wasser wie der Bach zur Zeit führt, wäre er wahrscheinlich bis ins Tal mitgetragen worden.«


Direkt hinter dem Haus fanden sie den Monakh nicht und auch keine Hinweise, die ihnen bei der Suche nach ihm helfen könnten. Nach ihm zu rufen brauchten sie erst gar nicht, da der Bach ab hier ohrenbetäubend ins Tal donnerte. Sie entschieden sich, getrennt weiterzusuchen. Frato ging bachabwärts und Saibro stieg zum Deich hoch. Aber auch dort fand er den Monakh nicht. Jedoch zeigte ihm ein schneller Blick auf den Deich, dass dieser unter den starken Regenfällen der vergangenen Tage gelitten hatte. Morgen müsste er einmal genauer nachsehen, wie kritisch dessen Zustand war. Saibro überlegte, wohin er sich bei seiner Suche nach ihrem Gast wenden sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Monakh von hier aus weiter hinaufgestiegen wäre, denn nur wenige Meter weiter gab es gut sichtbar einen Pfad, der ihn sicheren Fußes in die gleiche Richtung geführt hätte. Saibro entschied sich, diesem Pfad einige Meter weit in den Wald zu folgen. Er bedauerte, dass er sich so gar nicht auf das Lesen von Fährten verstand. Hier war der Bach noch recht leise und Saibro rief ein paar Mal nach dem Monakh. Doch er bekam keine Antwort. Nach wenigen Minuten brach er ab und kehrte zur Klause zurück. Dort angekommen spähte er hinab in den Wald. Er tat dies in der Hoffnung, dort das Licht von Fratos Fackel oder sogar ihn selbst zu erblicken. War da etwas? Saibro meinte, in der Ferne einen Lichtschein entdeckt zu haben. Erschöpft zuckte er mit den Schultern und machte sich an den Abstieg.


Der in der Nähe des Bachs entlang führende Pfad war nicht gleichsam komfortabel ausgebaut wie der Weg, den sie an der Rückseite des Hügels hochgekommen waren, doch war Saibro den Pfad schon oft gegangen.

Nach einigen Metern erkannte er Fratos Fackel deutlich. Er rief seinen Namen und bekam als Antwort: »Saibro. Komm her. Wir brauchen hier deine Hilfe.«

Saibro bemerkte sofort, dass er von wir gesprochen hatte. Also hatte er den Monakh gefunden. So schnell es ihm auf dem unebenen Geläuf möglich war, hielt er auf das Licht der Fackel zu. Als er Frato entdeckte, sah er den Monakh im ersten Moment nicht. Doch nur ein paar Schritte weiter konnte er ihn sehen: Er saß an einen umgefallenen Baumstamm gelehnt und ass einen Apfel; gewiss aus Fratos Proviant.

»Ich nehme an, sein Bein ist gebrochen«, sagte Frato, als Saibro zu ihnen trat.

»Was ist passiert?«

Mit schwacher Stimme berichtete der Monakh. »Es war ein Wildschwein. Es kam dort unten plötzlich aus dem Unterholz. Es hat mich am Bein erwischt. Ich konnte mich bis hierher zum Bach hochschleppen, aber weiter kam ich nicht … wie Tuhan weiß.«

»Wann ist das passiert?«, wollte Saibro wissen.

»Gestern Vormittag. Ich bin nach dem Aufstehen immer hier runter gestiegen, weil es dort drüben einen so schönen Ort zum Beten gibt. Man sieht dort die Sonne über dem Tal aufgehen. Atemberaubend.«

»Ja, den Platz kenne ich«, stimmte Saibro ungeduldig zu und fragte: »Hast du starke Schmerzen?«

»Es geht. Ich habe versucht, sie anzunehmen.«

Saibro war sich nicht ganz sicher, was der Monakh damit meinte, aber darüber konnte er ihn später zur Genüge ausfragen. Jetzt galt es, den Mann zur Klause zu bringen. »Wie schaffen wir ihn am besten rauf? Der Weg ist zu schmal, damit wir ihn beide stützen könnten.«

»Und zu steil, um mit einer Bahre zu arbeiten«, fügte Frato hinzu.

»Dann müssen wir ihm das Bein gleich hier schienen, ihm Krücken bauen und ihn so gut es geht beim Aufstieg abstützen. Zudem muss einer ihn mit einem Seil von oben her halten.«, empfahl Saibro.

»Das wird das Beste sein. Würde es dir was ausmachen, wenn du das Werkzeug und die Materialien aus der Hütte holst?«, fragte Frato.

»Nein. Ich bin gleich wieder da.«


Als sie den Monakh endlich in der Klause hatten, war es bereits dunkle Nacht. Frato machte sich daran, die Wunde, die das Wildschwein hinterlassen hatte, zu säubern und zu versorgen.

Zum Glück gab es in der Klause immer einen Vorrat an Materialien und Zutaten um erste Hilfe zu leisten. So wollte Saibro dem Monakh auch eine von Muukja zusammengestellte und von ihm mit Wasser angerührte Kräutermischung gegen die Schmerzen verabreichen, doch dieser lehnte sie zunächst als unnötig ab. Als Frato ihm erklärte, dass er das gebrochene Bein erst einmal richten müsste, bevor er es erneut schienen könnte, trank der Monakh den Kräutersud dann doch anstandslos.


Völlig erschöpft und ausgehungert versorgten sie den Monakh bis in die Nacht hinein. Erst als dieser schon schlief aßen sie selbst etwas. Bis die Sonne wieder aufgehen würde , waren es nur noch ein paar Stunden. Frato legte sich zu dem Monakh in das freie Bett im Schlafraum und Saibro nahm die Liege im großen Zimmer. Schnell fiel er in einen tiefen Schlaf und träumte von Wildschweinen, die ihn einen langen steilen Abhang hinunterjagten.


Am nächsten Morgen war Saibro als Erster wach. Zum Wasser abschlagen und für die Morgentoilette ging er hinaus, wusch sich am Bach und putzte sich dort auch die Zähne. Danach kümmerte er sich um das Morgenmahl.

Als alles auf dem Tisch stand, ging er in den Schlafraum und schaute nach, ob einer der beiden schon wach war. Frato schnarchte noch seelenruhig vor sich hin. Der Monakh befand sich in einer Art Halbschlaf und sah schon auf den ersten Blick nicht gut aus. Saibro fühlte seine Stirn. Er hatte Fieber, war feucht vom Schweiß. Saibro weckte Frato. Gemeinsam überprüften sie die Vorräte an Heilmitteln und Kräutern. Frato fand genügend Kräuter, um dem Monakh einen das Fieber senkenden Tee daraus zu kochen. Sie einigten sich darauf, dass sie den Kranken schleunigst nach Hainrod bringen müssten. Saibro begann nach einer schnellen Mahlzeit mit dem Bau einer Trage. Währenddessen bereitete Frato den Monakh auf die Reise vor. War man gut zu Fuß, konnte man den Weg in etwa zwei Stunden bewältigen. Saibro ging aber davon aus, dass sie unter diesen Umständen mehr als das Doppelte brauchen würden.


»Zum Glück hat der Tee das Fieber etwas gesenkt. Ich habe mir die Wunde am Bein nochmals angesehen. Sie sieht schlimm aus. Wir sollten ihn möglichst schnell zu eurer Heilerin bringen.«

Saibro nickte zustimmend. Er hatte soeben die letzten Schnüre der Trage an den Stangen befestigt, als Frato zu ihm hinausgekommen war, um ihm vom Zustand des Monakh zu berichten.

»Was meinst du? Müssen wir erst noch aufräumen, bevor wir aufbrechen? Und was machen wir mit seinen Sachen?«, fragte Frato.

Saibro grübelte kurz. »Wie ich das sehe, hat er nicht all zu viel dabei. Das bekommen wir noch in unsere Rucksäcke. Ich schlage vor: Wir lassen hier alles wie es ist, bringen ihn nach Hainrod und kommen morgen wieder hierher zurück. Übermorgen früh, setzen wir dann unsere Suche nach einem Ort für die Akademie fort.«

»Gut. Das hört sich vernünftig an«, stimmte Frato zu.

»Ich würde jetzt nur gerne noch schauen, was an den üblichen Vorräten und Dingen inzwischen fehlt oder aufgefüllt werden muss. Die Sachen können wir dann morgen mitbringen. Dann war der Weg nicht ganz umsonst.«

»Und morgen machen wir uns hier in der Hütte einen schönen Abend«, schlug Frato vor.

»So wird es gemacht. Machst du den Monakh abreisefertig, während ich die Besorgungsliste aufstelle?«

Frato nickte und ging in die Klause. Saibro folgte ihm.

Kapitel 11

»Ihr seid euch also wirklich völlig uneins?« Auch wenn Apaquias Frage etwas anderes vorgab, so wirkte sie alles andere als überrascht. Sie saß mit Sydän auf dem Schoss am Dorfbau und trank zusammen mit Saibro einen Tee. Er und Frato waren vor wenigen Minuten von ihrer zweiten Erkundungstour zurückgekehrt. Frato hatte sich jedoch gleich ins Gästehaus begeben. Er hatte den Wunsch vorgeschoben, sich dringend reinigen zu müssen.

»Frato findet einen Ort nördlich von hier ganz toll. Aber ich bin für den schönen Hain, der eine gute halbe Stunde westlich liegt.«

Apaquia schüttelte verständnislos den Kopf. »Ach, Saibro. Und jetzt soll ich mich mit euch auf den Weg machen, weil ihr euch nicht einigen könnt?«

»So war unsere Überlegung.«

»Und wer passt auf den Kleinen auf?«

»Den können wir mitnehmen.«

Apaquia wirkte nicht begeistert.

»Oder wir fragen Koremna, ob sie in der Zeit auf Sydän aufpassen kann«, schlug Saibro vor.

Ihren Einspruch bereits in den Augen offenbarend, öffnete Apaquia den Mund, da trat Muukja an ihren Tisch.

»Entschuldigt die Störung.«

»Kein Problem«, antwortete Saibro. »Was gibt es?«

»Es geht um den Monakh.«

Apaquia klopfte auf den freien Platz an ihrer Seite. Muukja nahm das Angebot an und setzte sich.

»Wie geht es ihm?«, fragte Saibro. Er tat dies mehr aus Höflichkeit, denn in Wahrheit war er nur mässig an der Krankengeschichte ihres Gastes interessiert.

»So weit ganz gut. Er hatte viel Glück, dass ihr ihn zufällig gefunden habt. Mit dem gebrochenen Bein und der Wunde, da hätte er es dort im Wald niemals alleine geschafft.«

Apaquia blickte mit Stolz in den Augen zu Saibro. Was ihm hingegen eher unangenehm war.

»Er hegt den Wunsch in seine Gemeinschaft zurück zu kehren«, offenbarte ihnen Muukja.

»Mir soll es recht sein.«

Prompt bedachte Apaquia Saibro für diese Aussage mit einem vorwurfsvollen Blick. Schuldbewusst zog er den Kopf ein.

»Aber sein Bein? Es dürfte doch einige Wochen dauern, bis er wieder gesund genug ist, um eine solche Reise antreten zu können?«, fragte Apaquia die alte Heilerin.

»Diese Einschätzung teile ich im Prinzip.«

»Was heißt: Im Prinzip

»Das heißt: Ich will ihn keine weiteren Wochen hier haben.«

»Muukja! Das ist aber nicht sehr gastfreundlich«, schimpfte Apaquia.

Die alte Frau zuckte nur mit den Schultern und wandte sich an Saibro: »Du siehst das doch sicher ähnlich?«

Verlegen nickte Saibro vorsichtig.

»Siehst du, Apaquia, selbst dein Liebster will ihn nicht hier haben.«

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783955950682
ISBN (Paperback)
9783955950699
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Fantasy Dorf Schicksal Wanderer Gemeinschaft Utopie Gesellschaft
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Titel: Das Land hinter den Bergen