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iuuq – Die gedachte Welt

©2015 240 Seiten

Zusammenfassung

„Wo waren Alexa und ihre nerdigen Freunde da bloß reingeraten? Noch vor kurzem bestand ihre größte Sorge darin, sich nicht von ihrer überfürsorglichen Mutter in den Wahnsinn treiben zu lassen und den Lehrstoff ihres Studiums rechtzeitig zu den Klausuren in den Kopf reinzubekommen. Doch dann fanden sie diesen USB-Stick und alles veränderte sich. Veränderte sich extrem…“

It's Nerd Fiction

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kurzbeschreibung

Wo waren Alexa und ihre nerdigen Freunde da bloß reingeraten? Noch vor kurzem bestand ihre größte Sorge darin, sich nicht von ihrer überfürsorglichen Mutter in den Wahnsinn treiben zu lassen und den Lehrstoff ihres Studiums rechtzeitig zu den Klausuren in den Kopf reinzubekommen. Doch dann fanden sie diesen USB-Stick und alles veränderte sich. Veränderte sich extrem…

Über dieses Buch

Der Löwenanteil dieses Romans ist in den Jahren 2008 bis 2011 entstanden und seine Handlung ist auch in dieser Zeit zu verorten. In der Zwischenzeit bis zur ersten Veröffentlichung habe ich die Geschichte mehrfach überarbeitet, von lieben und versierten Menschen lesen und kritisieren lassen. Trotz der Aufmunterung aller dieser Menschen, habe ich nie den Mut gefunden, es zu veröffentlichen. Das Leben hat mir dann im Jahr 2013 auch ziemlich nachdrücklich gezeigt warum: Ich wurde auf Grund einer akuten depressiven Episode in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort stellte es sich dann schnell heraus, dass die Ursache meiner Depression eine seit Jahrzehnten unerkannte Angststörung ist; in meinem Fall eine Sozialphobie. Zentrales Merkmal dieser Phobie ist ein gestörtes Selbstwertsystem. Das nun jemand dieses Buch in seinen Händen hält, es gekauft hat, ist für mich ein ganz außerordentlicher persönlicher Erfolg, denn seine Veröffentlichung ist ein wichtiger Meilenstein meiner therapeutischen Bemühungen.

Ich widme es allen Menschen, die mir im Großen wie Kleinen in dieser schweren Zeit geholfen haben … und ganz besonders Natali.

Impressum

Matthias Zellmer: iuuq - Die gedachte Welt

Copyright © 2015 Matthias Zellmer

Erschienen bei TUBUK digital

TUBUK digital ist ein Imprint der Open Publishing Rights GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Matthias Zellmer

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH, www.openpublishing.com

ISBN: 978-3-95595-059-0

Besuchen Sie uns auch im Internet: www.tubuk-digital.de

Prolog

»0 0 … 0 100 … 86.6 50 … color … full … FF … 0 … 0«, sprach der Mann in sein Headset. Ein knallrotes Dreieck erschien. Laut dachte er: »Witzig! Dieser antiquierte Kram funktioniert also auch. Probieren wir es mal mit: Löschen.« Die geometrische Figur verschwand. Er veränderte seine Position im Raum. »Dreieck … gelb.« Kaum wahrnehmbar blitzte kurz etwas Gelbes vor ihm auf; war aber sofort wieder verschwunden. Er blinzelte ein paarmal, schloss seine schwer gewordenen Augenlieder erneut und versuchte sich noch einmal zu konzentrieren: »Dreieck … gelb … gleichschenklig … Seitenlänge 100.« Ein gelber Kreis erschien. Erst wunderte er sich. Doch dann lächelte er wissend. »Stopp.« Der Kreis wurde zu einem Dreieck. »Aha!« Der Mann bewegte sich um das Gebilde herum. Die von ihm entfernteste Spitze der gelben Figur, verlängerte sich im Raum. Bis sie scheinbar, unendlich verlängert, mit dem gesamten Dreieck verschwand. Augenblicklich stoppte er seine Bewegung; um kurz darauf ganz langsam weiterzugleiten. Die Figur wurde wieder sichtbar. Nur näherte sich diesmal ihre entfernte Spitze seiner eigenen Position seitenverkehrt. Er stoppte. »Löschen.« Das Dreieck verschwand. »Kugel … blau … Durchmesser 100.« Ein blauer Ball erschien. »Kopieren … 0 … 100 … 0.« Ein weiterer blauer Ball setzte sich direkt oben auf den ersten. Er nickte zufrieden; aber auch erschöpft. »Löschen. Browser-Fenster.« Die blaue Figur verschwand und ein weißes Rechteck erschien im Raum. »Suche … Umkreis 5 Kilometer … Pizza Rucola.« Aus dem weißen Rechteck wurde ein Stadtplan mit drei rot leuchtend blickenden Punkten. »Zeiger.« Eine pixelige Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger erschien. Er ließ sie auf einen der blickenden Punkte tippen. Ein zweites Fenster öffnete sich, in ihm stand: Pizza Rucola, 30 cm, 7 Euro. »Bestellen … Quit.« Er öffnete seine Augen. Sein Magen knurrte.

Kapitel 1

Das Anwesen

Diese Halle war außerordentlich beeindruckend. Ein Foyer, so riesig, dass ein kleines Einfamilienhaus darin Platz haben könnte. Zum Empfang der Besucher standen ein gutes Dutzend nackte, übermenschlich große Skulpturen an den Seiten Spalier. Sie wirkten wie antiken Götterstatuen nachempfunden. An den Wänden dahinter, hingen riesige Ölgemälde in verzierten, goldenen Rahmen. Sie zeigten allesamt Szenen von berühmten Schlachten; mit viel Ehre, Blut und Tod. Die von den Künstlern verwendeten Farben waren eher gedeckt und dunkel. Nur das Blut leuchtete wahrhaft blutrot. Alles roch alt. Ein goldbesetzter Kronleuchter beherrschte die Decke. Er hatte die Ausmaßen eines kopfüber hängenden Apfelbaums und seine Kristallbehänge glitzerte und glänzte im Sonnenlicht, welches durch die bis fast unter die Decke reichenden Fenster fiel. Diese Fenster rahmten die mindestens fünf bis sechs Meter hohe, doppelflügelige Eingangstür zu beiden Seiten ein. Sie war aus dunklem Eichenholz gefertigt und reichhaltig mit Ornamenten besetzt. Gewaltige Amphoren standen vor den Wänden zwischen den Fenstern. Gegenüber der Eingangstür führte links und rechts je eine geschwungene Treppe hinauf in die erste Etage. Die Treppenflügel endeten in einem balkonartigen Vorbau, unter dem zwei gläserne Flügeltüren Einblick in einen prunkvollen Saal gewährten. Der Marmorboden der Vorhalle spiegelte wie frisch gebohnert, lud zum In-Socken-Herumrutschen ein. Doch dem schweren, in der Luft liegenden Geruch nach zu urteilen, war dieser Glanz nicht das Werk von kürzlich am Werk gewesenen, fleißigen Reinigungskräften, sondern auf mindestens Jahrzehnte lange Benutzung zurückzuführen.

Dieses Anwesen war das genaue Gegenteil von Max' Zuhause. Die Wohnung in der seine Familie lebte, war eher klein, ihre Einrichtung alles andere als beeindruckend. Es waren zum Großteil schlichtweg die abgelegten Sachen von Freunden und Verwandten. Statt goldenen Verzierungen schmückten Klebe-bandstreifen die Möbel. Zur Begrüßung gab es einen überquellenden Schuhschrank, der mit einer vertrockneten Rose dekoriert war, welche schon seit mindestens drei Jahren in der kitschigen Vase stand. Die Vase hatten sie von einer entfernt verwandten, alten Dame bekommen; nachdem einer der Henkel abgebrochen war. Seine Mutter hatte den Henkel kurzerhand mit dem Bastelkleber repariert, den er aus der Schule hatte mitgehen lassen. Dass er sich diese Freiheiten nahm, schien in seiner Schule niemanden zu stören. Max hatte dort ziemliche Narrenfreiheit. Zumindest so lange, wie er regelmäßig irgendwelche nervigen Wettbewerbe gewann, die der Schule Ruhm und Anerkennung einbrachten … und Fördermittel. Doch wenigstens roch es zuhause besser als in diesem Anwesen. Seine Mutter war eine gute und leidenschaftliche Köchin. Es roch immer irgendwie nach frisch zubereitetem, reichhaltigem Essen. So wenig seine Mutter auf neue Möbel und moderne Kinkerlitzchen achtete, so sehr achtete sie auf eine gesunde Ernährung. Irgendwelche Fertigprodukte kamen ihr nicht ins Haus. Sie ging zwei Mal pro Woche auf den Markt, hatte seit kurzem sogar den Bio-Supermarkt ins Herz geschlossen.

Neben der Küche hatte ihre Wohnung noch ein kleines Bad, das Elternschlafzimmer und die beiden Zimmer in denen Max und seine Schwester Alexa wohnten. Auch hatten sie ein kleines Wohnzimmer, in dem sich jedoch meist nur sein Vater aufhielt.

»Du musst Maximilian Rose sein. Herzlich willkommen an der Gablin-Akademie.« Max fuhr ein leichter Schreck in die Glieder, und er herum. Vor ihm stand eine Frau, die ihn lächelnd ansah. »Oh. Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Du warst … ähm … bist wohl noch beeindruckt von dem Ambiente hier. Ja, ich finde es auch nach gut … sechs … sieben Jahren immer noch … ach, ist ja auch egal. Darf ich dich Max nennen?« Max nickte und wirkte ein weiteres Mal beeindruckt. Er war nun in einem Alter, in dem Brüste eine Rolle zu spielen begannen. Und was diese gut 30 Jahre ältere, fast einen Kopf größere Frau direkt vor seiner Nase platziert hatte, war mehr als ein pubertierender Geist gelassen verkraften konnte. Zudem roch diese Frau sehr gut. Sie hatte ein leichtes, blumig-süßes Parfüm aufgelegt. Max hatte sicher schon häufiger den Geruch eines Parfüms an einer Frau wahrgenommen, doch dieses Duftwasser hatte das Potenzial, einem Knaben tief ins Bewusstsein einzudringen und ihm die ganze Bedeutung eines zweiten Geschlechts klar zu machen. Max wurde rot. »Auch wenn du nicht mit mir reden willst«, und sie fügte lachend hinzu: »oder kannst. Merkt dir mal meinen Namen: Ich bin Esther und für die kommende Woche deine Ansprechpartnerin. Falls du wirklich sprechen kannst. Aber davon geh ich mal aus. Sonst wärst du kaum hier.« Schon im Umdrehen begriffen, fügte sie noch hinzu: »Du kannst mich ruhig auch duzen. Hier duzen wir uns alle.« Sie ging auf eine unscheinbare Seitentür in der Ecke der Vorhalle zu und winkte ihn hinter sich her, ohne sich noch mal nach ihm umzudrehen.

»Du kannst dich hier vorne hinsetzen.« Esther ging um den Schreibtisch im ihrem Büro herum, zeigte dabei auf einen der beiden davor stehenden Stühle. Das Büro war im Bezug auf das, was Max bisher in diesem Anwesen zu sehen bekommen hatte, unglaublich schlicht. Kein Stuck, keine Goldverzierungen, ein 3-fach Strahler aus dem Baumarkt an der Decke und die Bilder an den Wänden befanden sich rahmenlos hinter einfachem Glas. Dies hätte auch die Einrichtung einer Amtsstube in irgendeiner Behörde sein können. Neben Esther war der einzige Hingucker in diesem Raum, ein rotes Sofa mit urgemütlicher Ausstrahlung. Jetzt so vor dieser Frau und ihrem Schreibtisch zu sitzen, musste Max sicher an jene ungeliebten Augenblicke in seiner Schule erinnern, wenn ihn sein Direktor zu sich beordert hatte. Ganz gleich, ob ihn mit stolzer Miene zu loben oder mit herunterhängenden Schultern zu tadeln. Genau das war der Begriff, welchen er dann immer verwendete: Max … ich muss dich tadeln.

»So, mein Lieber. Wollen wir mal schnell das Organisatorische klären. Dein Name ist Maximilian Rose…« Esther schaute über den oberen Rahmen ihrer zum Lesen seiner Akten aufgesetzten Brille, und ihm direkt in die Augen: »Kein zweiter Vorname?« Max schüttelte den Kopf, doch Esther fuhr schon fort: »Du bist in … ach, das wird schon alles seine Richtigkeit haben.« Sie klappte die Mappe mit Max' Unterlagen zu, warf sie auf einen Stapel aus Akten, Zeitschriften und sonstigem Papierkram. Dann lehnte sie sich nach vorne und schaute Max wieder sehr direkt an. Woraufhin dieser sogleich verlegen unter sich schaute. Esther schmunzelte, setzte die Befragung jedoch unmittelbar fort: »Ich habe gelesen, dass du natürlich in allen Schulfächern sehr gute Noten hast. Werdet ihr denn nicht im Mündlichen bewertet?«

Max war normalerweise alles andere als ein großer Schweiger. Aber dies hier hätte wahrscheinlich auch die meisten anderen Jungen in seinem Alter ziemlich eingeschüchtert. Alles war irgendwie mindestens eine Nummer zu groß. Mindestens eine. »Was soll ich sagen?« Max sprach zum ersten Mal seit er in der Akademie angekommen war. »Gute Frage!«, entgegnete Esther. »Was erwartest du dir von der Woche hier?« »Will'n Stipendium«, nuschelte Max. »Du weißt, dass das nicht einfach ist. Wir haben hier ein ziemlich ausgefeiltes Test-Programm. Da hat schon so mancher Hochbegabte die Segel streichen müssen.« Esther schaute Max abermals tief in die Augen, er versuchte diesmal stand zu halten. Ein kläglicher Versuch. Sie fuhr fort: »Unsere Tests sind mehr als die üblichen IQ-Tests, die du sicher zu genüge kennst. Wie lief eigentlich dein letzter?« »152.« »Nach deutschen Kriterien?« »Ja.« »Nicht schlecht. Aber wie gesagt, wir testen etwas anders. Sicher, du wirst auch hier wieder die üblichen Fragen und Aufgaben gestellt bekommen. Die zeitlichen und … nennen wir sie mal räumlichen Bedingungen werden aber etwas anders sein.« Max zog neugierig eine Augenbraue hoch. Zuerst hatte er nicht unbedingt hierher gewollt. Stipendien hatte er genug angeboten bekommen. Doch als er gehört hatte, dass es als wirklich ganz besonders schwierig galt, an der Gablin-Akademie ein Stipendium zu erhalten, war sein Ehrgeiz geweckt. Wann hatte er schon mal die Möglichkeit etwas zu tun, dass er nicht mit Leichtigkeit absolvieren konnte. Er war ja sogar ein sehr guter Sportler.

Esther kramte nun doch noch einmal in seinen Unterlagen. »Ich sehe, deine Eltern und du, ihr habt in den Test mit unserer Neuroenzephalographen eingewilligt. Das ist der ganz besondere Teil in unserer Testserie. Schließlich hat das gute Teil einen ordentlichen Batzen Geld gekostet; Spitzentechnologie aus der Region. Dieser Test ist aber nicht weiter problematisch. Du solltest nur keine Angst vor Saugknöpfen, Spritzen und Röhren haben.« Esther schmunzelte mal wieder, lehnte sich dabei zufrieden zurück. »Kein Problem«, antwortet Max. »Gut, dann sind wir fürs Erste auch schon durch. Vor der Tür wartet Raik. Er wird dir dein Zimmer zeigen. Es ist jetzt«, sie blickte zur Uhr an der Wand, »gleich zwei. Das Mittagessen hast du verpasst. Aber Raik weiß sicher einen Weg, dir jetzt noch was zu besorgen.« Wieder schmunzelte Esther. Sie stand auf und hielt Max einen Ausweis hin, sowie eine kleine Mappe. Max schnappte sich beides und ging in Richtung Tür. »Ähm, Max?« Er hatte den Türgriff schon in der Hand, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Bist du religiös?« Max legte die Stirn in Falten, schüttelte den Kopf und fragte: »Warum?« Esther schaute für einen kurzen Augenblick etwas enttäuscht, schüttelte dann aber ihrerseits mit dem Kopf: »Nur so. Für meine persönliche Statistik.«

Kapitel 2

Hochschule

Alexa wurde flau im Magen. Wie sollte sie die Fülle an Informationen, die der Dozent da vorne gerade vortrug, jemals in ihren Kopf hineinbringen? Das alles müsste sie schließlich später auch in einer Prüfung wiedergeben können. Und wenn es nur die schlichte Stoffmenge wäre. Dieses Fach war einfach nicht ihres, doch durch diesen Wirtschaftskram mussten alle Studierenden an dieser Hochschule durch. Egal ob sie, wie sie selbst, Angewandte Netz-Wissenschaften oder etwa Geographie, Elektrotechnik oder Soziologie studierten. Bei diesem für sie nur all zu oft unergründlichen Stoff aus dem Bereich Rechnungswesen, würde sie mal wieder ihren kleinen Bruder fragen müssen. Sicher, Max würde wie immer die Augen verdrehen, und wenn er es nicht auf Anhieb wüsste, würde er so etwas sagen wie: »Ich google das mal schnell. Komm in einer halben Stunde wieder.« Sie würde dann eine halbe Stunde später wieder über den Flur in sein Zimmer schleichen, wo er sich natürlich schon lange wieder einer anderen Sache zugewendet hätte. Max würde dann leicht irritiert aufschauen und in etwa sagen: »Was? … ach ja … dein Problemchen. Also, hock dich hin. Das ist ganz einfach.« Dann würde er anfangen zu erklären, sie ein paar Mal nachfragen müssen, doch nach einer Weile, wüsste sie bestens Bescheid. So dumm war sie nun auch wieder nicht. Aber manchmal dachte sie bei sich, dass es vielleicht weniger aufwendig wäre, sich nur die Vorlesungs- und Seminarthemen von ihren Professoren geben zu lassen und dann gleich bei ihrem Bruder zu studieren. Natürlich würde dieser das niemals mitmachen. Außerdem war sie der Meinung, dass es grundsätzlich immer besser war, die Lehrveranstaltungen zu besuchen. Beobachtete sie die Dozenten genau, dann war es für sie oftmals möglich, die Schwerpunkte ihrer Prüfungen zu erahnen. Alexa war froh, dass wenn sie schon nicht so eine Intelligenzbestie wie ihr kleiner Bruder war, sie statt dessen eine etwas größere Portion Empathie abbekommen hatte.

»Geh'n wir gleich zusammen in die Mensa?«, flüsterte der neben Alexa sitzende Tüte unvermittelt zu ihr herüber. »Pssst! Ich muss hier aufpassen«, antwortete sie ihm mit gedämpfter Stimme; um dann kurz darauf noch hinzuzufügen: »Aber gut: Mensa!«.

Alexa mochte ihren Kommilitonen Tüte, dessen bürgerlicher Vorname Jens war; so nannte ihn aber niemand. Er war ein guter Kerl, manchmal ein wenig anstrengend, weil er so viel plapperte, aber oftmals auch eine gute Alternative zu ihrem kleinen Nachhilfelehrer zuhause. Der schlaksige Tüte, mit den immer verwuschelten blonden Haaren und seinen großen blau-grauen Augen, war wirklich begabt; und seine Diskussionen mit den Seminarleitern legendär. Alexa hatte noch nicht ergründet, warum ihr Kommilitone von allen Tüte genannt wurde. Vom Kiffen könnte es nicht kommen. Sie hatte schon so manche Nacht mit ihm durchzecht und nie hatte er geraucht; weder mit, noch ohne Cannabis. Stattdessen hatte er ihr auf einer Wohnheim-Fete einmal lang und breit erklärt, dass Gras auf arabisch Haschisch heiße und das gut zwei Drittel der Weltproduktion von dem Zeug aus Marokko stamme. Und da sie ihn damals nicht frühzeitig gebremst hatte, erläuterte er ihr auch noch wortreich, dass Marokko wiederum ursprünglich von Berbern gegründet und offiziell Al-Maghrib genannt wurde. Was sich wiederum vom arabischen Wort für Sonnenuntergang Maghreb ableitete. So etwas konnte stundenlang gehen, da Tüte immer wieder eine neue Assoziation in den Sinn kam und sein Allgemeinwissen gigantisch war. Was auf Partys und in der Mensa kurzweilig war, hatte bisher aber irgendwie auch verhindert, dass Alexa den rechten Augenblick für gekommen sah, um Tüte mal zu fragen, wo er diesen seltsamen Spitznamen eigentlich her hatte. Denn sie hatte zugegebenermaßen auch irgendwie das Gefühl, dass er über die Herkunft seines Spitznamens lieber nicht wirklich gern sprechen wollte.

»Nachher geht es mit der Klampfe wieder in die Stadt. Brauche ein paar Euro für'n Sprit. Mein Tank ist schon wieder leer«, verkündetet Tüte kauend.

Alexa wusste nicht, ob sie Tüte für seinen Lebensstil bewundern oder bedauern sollte. Er lebte in ständig wechselnden WGs, besaß neben seiner alten rostigen Ente gerade mal soviel, wie er in zwei Koffer und eine Notebook-Tasche bekam. Den Unterhalt für sein Leben verdiente er sich vornehmlich mit Straßenmusik. Manchmal, wenn es eng wurde, half er bei einem befreundeten Biobauern auf dem Gießener Wochenmarkt oder bei der Ernte aus. »Kommst du kurz mit? Du weißt, es ist immer gut, wenn am Anfang eine hübsche, junge Frau darumsteht und meine Musik gut findet.« »Ich finde deine Musik aber nicht gut«, erwiderte Alexa hämisch grinsend. »Ich werde nie verstehen, was du gegen die großen alten Männer der Rockmusik hast? Sei's drum. Haste Zeit?« Alexa schüttelte den Kopf, während sie zugleich die Gabel mit der Pasta in den Mund steckte. »Nö, üff…« Sie brach den Satz ab und kaute. »Haste noch Vorlesung?«, stürzte sich Tüte fragend in die Gesprächspause. Alexa schluckte einen viel zu großen Happen runter und spülte schnell mit einem Schluck Wasser nach. In den wenigen Augenblicken bis zu Alexas Antwort, durchlebte Tütes Gesicht zahlreiche auf tiefe Ungeduld hinweisende Gesichtsausdrücke; die mit ein paar Fragelauten untermalt wurden. Alexa lächelte spitzbübisch und antworte: »Eigentlich hab ich noch was beim Meierling, aber da gehe ich heute nicht hin. Ich bin mit dem Auto meiner Eltern hier, da ich nachher Mäxchen vom Bahnhof abholen darf.« »Stimmt ja! Der kommt von seiner großen Woche in der Schlaumeier-Schule wieder. Schon was gehört, wie es war?« »Nee, der hat sich die komplette Woche nur einmal gemeldet und das war gestern Abend per SMS.« Alexa holte ihr Handy aus ihrer Tasche, die neben den Tabletts auf dem Tisch lag, tippte behände darauf herum, las dann vor: »Bin 14:34 am Bahnhof. Jemand muss mich abholen. Max. Und da meine Mutter jeden Freitagnachmittag meiner Tante Ilse beim Putzen ihrer Wohnung hilft, hab ich diese ehrenvolle Aufgabe übertragen bekommen. Na, wenigstens durfte ich so das Auto mit an die Uni nehmen. Sonst hätte ich den Kleinen ja mit dem Bus abholen müssen. Und sowas geht ja wirklich nicht!« Ohne auf die kleine Spitze gegen Alexas Mutter einzugehen, war dieses Thema für Tüte plötzlich auch schon wieder beendet. Ein anderes allerdings nicht: »Was hast du zum Beispiel gegen Clapton? Der alte Mann ist mit seinen über 60 immer noch richtig klasse.« Alexa wusste was jetzt kam und schnappte sich ihren Pudding. Sie würde diesen nun in Seelenruhe, und Tütes Monolog lauschend, genießen können. Dabei war sie sich nicht mal sicher, ob Tüte es überhaupt wahrgenommen haben würde, wenn sie wie üblich, anschließend noch auf einen Kaffee in die Cafeteria hinübergegangen sein werden?

Kapitel 3

Langeland

»Ihr wollt ihn doch nicht wirklich…?« Alexa konnte es nicht fassen. Das amateurhafte Bühnenstück, welches anscheinend gerade nur für sie persönlich aufgeführt wurde, nahm immer absonderlichere Formen an. Dass sich ihr Bruder im Auto kaum zu einer als vollständigen Satz interpretierbaren Aussage hatte hinreissen lassen, hatte Alexa noch ihrer Verspätung zugeschrieben; sie war fast eine halbe Stunde zu spät am ihrem üblichen Treffpunkt vor dem Kurzzeit-Parkplatz angekommen. Zunächst hatte sie sich mit Tüte beim Kaffee verquatscht und dann war der Wagen ihrer Eltern auch noch von so einem Dussel auf dem Uni-Parkplatz zugeparkt worden. Dieser hatte zwar seine Handy-Nummer hinter die Windschutzscheibe seines Wagens gelegt, aber bis er in seinem albernen weißen Kittel aus seinem Labor heraus zum Parkplatz gekommen war, war sie schon hoffnungslos verspätet. Zumindest schien es ihm leid zu tun. Er entschuldigte sich mehrfach und betonte sehr glaubhaft, dass dies eigentlich nicht seine Art sei. Obendrein meinte er, ihr noch vorschlagen zu müssen, dass sie sich doch noch mal bei ihm melden solle, dann würde er ihr zur Entschädigung einen Kaffee ausgeben. Seine Nummer hätte sie ja jetzt und solle sie unter dem Namen Mirko … Mirko mit K abspeichern. Sie lehnte das alles ab, bat ihn indes mit etwas mehr Nachdruck, sie jetzt rausfahren zu lassen. Was er dann auch tat. Nicht aber ohne sich noch ein paarmal bei heruntergelassener Fensterscheibe bei ihr zu entschuldigen. Wenn die Gesellschaft von diesem Mirko auch nur annähernd so langweilig wäre, wie seine Frisur, wollte Alexa unbedingt auf diesen Entschuldigungskaffee verzichten. Zudem war dieser Typ unglaublich blass und hatte die zu dieser Hautfarbe passenden kupferroten Haare. Was Alexa überhaupt nicht ansprach. Er war so gar nicht Alexas Typ … so gar nicht.

Mit Max zu Hause angekommen, wurden sie beide sofort in die Küche zitiert. Alexa setzte sich an ihren angestammten Platz. Der Tisch war bereits opulent gedeckt, ihr Vater und sie wurden jedoch erst einmal zu Statisten degradiert. Der Bub wurde nun gründlich von Muttern inspiziert und geknuddelt. Sein missfallender Gesichtsausdruck sprach dabei Bände: Er handelte von der aufkeimenden Pubertät, von einer intensiven Abneigung familieninterner zur Schaustellung und von alledem, was ein 12-Jähriger eben nicht mag, an überschwänglicher und seit Jahren unveränderter mütterlicher Zuneigung.

Als Alexa zu ihrem Vater blickte, meinte sie Mitleid in seinen Augen zu sehen. Es hätte aber auch genauso gut Hunger sein können. Gefühlstechnisch war ihr Vater für sie immer ein Buch mit mindestens sieben Siegeln geblieben. Alexa war der Ansicht, dass er und seine Wesensart wahrscheinlich der Hauptgrund für ihre ausgesprochen ausgeprägte Einfühlsamkeit war. Seit frühesten Kindertagen hatte sie stets den tiefen Wunsch ihn verstehen zu können. War er jemals traurig? Freute er sich über den Sieg seines Lieblingsfußballvereins? Hatte er überhaupt einen Lieblingsfußballverein? Hatte er überhaupt irgendein Lieblingsirgendwas? Er schaute jeden Samstag die Sportschau. Ohne aber dabei eine Vorliebe für einen der Vereine zu offenbaren. Alexa hatte ihn beobachtet. Kein Schmunzeln oder Stirnrunzeln bei irgendeiner der Aktionen auf dem grünen Rasen. Nie. Manchmal fragte sich Alexa, ob seine jahrelange Tätigkeit als Fernfahrer, ihn zu diesem Gefühlsbunker gemacht oder gerade diese Eigenschaft, ihn für diesen Job prädestiniert hatte? Alexa war sich auch nicht darüber im Klaren, ob sie ihn in irgendeiner Form bewundern oder zu ihm aufsehen dürfte? Manchmal blieb sie kurz im Rahmen der Wohnzimmertür stehen und beobachtete ihn dabei, wie er wiederum am Fenster stand und den Verkehr auf der viel befahrenen Ausfallstraße beobachtete, die direkt an ihrem Mietshaus vorbeiführte. Ob er das nun als Frührentner … der Rücken … quasi als Entzugsmaßnahme vom Straßenverkehr brauchte? Oder hatte er einfach keine andere Idee, was er mit sich und der nun mal zwangsläufig vorhandenen Zeit anfangen sollte? Alexa erwischte sich ab und an bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, mal mit ihrem Vater zu kiffen?

Der Bub hatte nach einer kräftigen Hühnersuppe und einem großen Teller Lasagne, nun auch beim Nachtisch seine Extra-Portion verputzt. Die Mengen an Nahrung, die Max inzwischen in sich hinein stopfen konnte, waren ein weiteres Indiz für seine anbrechende Pubertät und ließen Alexa einen bevorstehenden Wachstumsschub erwarten. Noch war ihr Bruder, der wie sie selbst, brünette Haare und braune, leicht ins grünliche gehende Augen hatte, ein paar Zentimeter kleiner als sie. Sie zählte mit ihren gut 165 Zentimetern aber auch nicht gerade zu den Riesen in ihrem Freundeskreis. Sie selbst trug ihre Haare glatt und schulterlang. Max jedoch hatte eine Lausbuben-Frisur, da er modemäßig noch ganz unter dem Einfluss ihrer Mutter stand, und diese ihrem Jüngsten nur allzu gerne stolz durch die Haare wuschelte.

Nachdem der letzten Löffel Pistazien-Pudding verputzt war, hatte Max die Bombe platzen lassen: »Ich geh im nächst'n Schuljahr auf eines dieser Akademie-Internate. Sie haben mir eins in Dänemark zugeteilt, auf 'ner Insel … Langland oder so. Kost auch nix, die bezahl'n alles.« Alexas Kinnlade klappte herunter und während sie unterbewusst auf ein brummiges, vom schluchzenden Aufschrei ihrer Mutter untermaltes Nein ihres Vaters wartete, hörte sie erst einmal nichts. Sie schaute zu ihren Eltern, die beide nickend da saßen und lächelten. Alexas Vater lächelte! Schon alleine dieser Anblick hätte in ihr eine Welt zusammenbrechen lassen können, aber auch ihre Mutter lächelte. Und nickte. Kein Redeschwall. Keine Tränen aus tiefer menschlicher Enttäuschung, nur debiles Nicken und dümmliches Lächeln. Alexa hörte sich plötzlich sagen: »Ihr wollt ihn doch nicht wirklich…?« Auch hörte sie den fassungslosen Ton in ihrer eigenen Stimme. Alexas Mutter tätschelte ihr daraufhin die Hand und sagte mit einem filmreif beruhigendem Unterton in der Stimme: »Wir hatten mit Amerika gerechnet. Langeland«, sie drehte ihrem Sohn kurz den Kopf zu: »Die Insel heißt Langeland, Schatz, nicht Langland«, um dann die Ansprache an ihre Tochter tätschelnd fortzusetzen: »Langeland ist eine tolle Insel. Dein Vater und ich waren doch vor drei Jahren mit Onkel Josch und einigen Leuten von seiner Freiwilligen Feuerwehr dort. Die hatten doch überraschend einige Plätze frei; wegen dieser Magen-Darm-Geschichte damals. Die hatten sich beim Abschlusstreffen zwei Tage vor dem Abreisetermin gegenseitig angesteckt und konnten…« »Mama!«, brach es aus Alexa heraus. »Ihr wollt Max einfach so nach Dänemark gehen lassen? Mit Zwölf? Als ich vor drei Jahren … mit Neunzehn! … als ich da in eine andere Stadt zum Studieren gehen wollte, da habt ihr … da hast du solch einen Aufstand geprobt, dass ich um des lieben Friedens willen, hier in Gießen geblieben bin.« »Aber du wolltest doch nur wegen deinem Mark…« wandte Alexas Mutter postwendend und mit mütterlichem Timbre in der Stimme ein. Aber Alexa unterbrach sie sogleich wieder: »Nur? Nur wegen Mark? Mark studiert in Hamburg. Ich wollte nach Berlin!« »Das wussten wir ja damals noch nicht. Wir dachten … aber das ist doch jetzt auch egal. Bei unserm Mäxchen, da wissen wir ja wo er hingeht. Und er tut dies bestimmt nicht wegen einem Mädchen, sondern weil er etwas ganz Besonderes ist.« Alexas hatte den Eindruck, dass ihr Hals um gut und gerne zwei Kragenweiten angeschwollen sein musste. Eine Kragenweite, für diese ganze antiquierte Scheiße und eine, für den Blick ihrer Mutter. Der war nämlich eine Mischung aus engelsgleicher Unschuld und Du weißt doch das ich recht habe! Wieder einmal der Resignation nahe, schaute Alexa Hilfe suchend über den Tisch. Das Lächeln im Gesicht ihres Vaters war wieder diesem gewohnt undurchschaubaren Ausdruck gewichen und Max … der war weg. »Wo ist er hin?«, frage Alexa mit immer noch vor lauter aufgestauter Wut leicht zitternder Stimme und während sie mit ihrem Kinn auf den nun verwaisten Stuhl deutete. »Raus«, antwortete ihr Vater gelassen.

Kapitel 4

Wohngemeinschaft

»Schwarztee?«

Alexa schaute zu Tüte auf und überlegte, ob sie seine Frage mit der für sie eigentlich mehr als berechtigten Nachfrage nach der Teesorte erwidern sollte? Doch da machte sie sich bewusst, dass er als passionierte Kaffeetrinker, Schwarztee schon für die Sorte halten würde, und antwortete schlicht: »Mit etwas Milch, ohne Zucker. Danke.« Tüte schnappte sich den Wasserkocher, klappte den Deckel auf, hielt ihn unter den Wasserhahn. Der Wasserkocher sah schon etwas mitgenommen aus, wie das meiste in dieser Küche. Für Alexa gehörte das aber einfach auch zu einer richtigen WG-Küche dazu. So wie ein zweiter Kühlschrank und ein kontinuierlich vorhandener Spülberg; ob die WG nun über eine Spülmaschine verfügte oder nicht. So eine Spülmaschine muss schließlich ein-, und noch viel schlimmer, auch wieder ausgeräumt werden.

Mit den Worten »Ich frag mal bei Sille, ob wir was von ihrem Tee haben können?«, ging Tüte aus der Küche und ließ Alexa mit der aus dem Radio trällernden Kate Bush allein.

Sille war eine von Tütes Mitbewohnerinnen und hieß mit richtigem Namen wahrscheinlich Sybille oder so ähnlich. Alexa wusste das nicht so genau. Vor allem da Tüte erst seit ein paar Monaten in dieser WG wohnte und üblicherweise auch kaum länger als ein halbes Jahr dort wohnen bleiben würde. Da machte sich Alexa inzwischen kaum noch die Mühe, die jeweiligen Mitbewohner von Tüte genauer kennenzulernen. Er hauste schon seit Jahren in WG-Zimmern von irgendwelchen Studierenden, die für ein Semester aus Studiengründen entweder im Ausland oder zumindest in einer anderen Stadt weilten. Solche Gründe gab es genug. Zum Beispiel das in den meisten Studiengängen vorgeschriebene Praxissemester in einem Betrieb oder das für ambitionierte Studenten obligatorische Semester beziehungsweise Jahr an einer ausländischen Universität. Tüte suchte sich immer möblierte WG-Zimmer und nach Möglichkeit solche, von Leuten, die bei ihren Vorbereitungen für die Zeit in der Ferne knapp dran und sowieso schon organisatorisch überlastet waren. So ließ sich oftmals ein netter Nachlass auf die Miete rausschlagen. Irgendwie hatte er ein Händchen dafür, immer noch rechtzeitig bevor er auf der Straße sitzen würde, genau solche Zimmer aufzutun. Aber seine Ansprüche an seine Behausung waren auch nicht gerade üppig. Um von Tüte akzeptiert zu werden, musste ein Zimmer in einer WG sein, ein Bett haben, und vor allem ein flottes WLAN. Weiter war es Tüte auch wichtig, dass in der WG nicht zu wenige Leute lebten und es nach Möglichkeit eine gemischte WG war. Er war der Auffassung, dass wenn nur Kerle in einer Wohnung lebten, sie zum Verlottern neigten. Und wenn nicht im Bezug auf die allgemeine Ordnung, dann zumindest geistig. Das hat er auch mal als einen wichtigen Grund bezeichnet, warum er nicht zur Bundeswehr gegangen war; neben seinem latenten Pazifismus und dem Interesse mal in einen Pflegeberuf reinzuschnuppern.

»Geht klar, wir können was von ihrem Tee haben. Sie kommt gleich und trinkt auch einen mit. Ist doch okay, oder?« Mit diesen Worten kehrte Tüte in die Küche zurück. Alexa nickte, auch wenn sie eigentlich gar nicht so glücklich darüber war. Sie war noch ziemlich aufgewühlt von dem Streit mit ihrer Mutter von vorhin. Sie hatte gehofft, mal mit Tüte über die Sache quatschen zu können; beziehungsweise Tüte ein bisschen darüber philosophieren zu lassen. Aber Sille wollte sie eigentlich lieber nicht dabei haben. Sie war lieb und nett, aber auch eine totale Gefühlstante; wie Tüte es ausdrückte. Sie praktizierte jeden Morgen Yoga und es roch immer nach Räucherstäbchen, wenn man an ihrer Zimmertür vorbeiging. Alexa waren diese spirituellen Leute immer etwas suspekt. Dabei fragte sie sich, ob es für ihren Vater nicht auch eine Art meditative Übung war, wenn er am Fenster stand und den Verkehr beobachtete? Ob religiöse Praktiken, spirituelle Übungen, Autos beobachten, die Menschen sind doch irgendwie alle ähnlich gestrickt, dachte sich Alexa. Hauptsache sie können sich effektiv von sich und ihren Ängsten ablenken. Eines schätzte Alexa allerdings sehr an Sille: Sie war die Besitzerin eines kleinen, grau-getigerten Katers namens Valentino.

»Hallo Alexa. Wie geht's?« Sille schlürfte in Plüsch-Hausschuhen und mit einem rosa Bademantel bekleidet in die Küche. Die Schlappen hatten eine Schweineschnauze, Augen und Ohren, und waren ebenfalls rosa. Alexa fragte sich, ob Sille schon im Bett gelegen hatte oder eigentlich auf dem Weg ins Bad gewesen war. Sie war eine hübsche junge Frau und passte augenscheinlich recht gut in das, was Tüte sein Beuteschema nannte: Große braune, immer etwas staunend dreinblickende Augen, dunkelblonde, meist wie jetzt auch, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haare und ein recht schmallippiger Mund. Sie hatte mit etwas über eins sechzig ungefähr Alexas Körpergröße, war aber schlanker und auch ein wenig durchtrainierter. Nicht das Alexa mit ihrer Figur unzufrieden gewesen wäre. Aber ein bisschen mehr Sport treiben, das hatte sie sich schon länger vorgenommen. Zur Zeit schaffte sie es ein bis zwei Mal im Monat Joggen zu gehen … maximal. Was schon mal besser war, als gar nichts.

Tüte stellte zwei Tassen Tee auf den Tisch und holte sich dann seine Tasse Kaffee von der Arbeitsfläche der Küchenzeile. »Okay, Kleines, was is' los?« Er setzte sich auf den Stuhl neben Alexa, schaute sie erwartungsvoll an … und schwieg. Alexa staunte nicht schlecht. Wenn Tüte mal die Klappe hielt, dann zumeist nur aus tief empfundenem Mitgefühl. Sah sie so bemitleidenswert aus? Alexa bemerkte nun auch die großen Augen von Sille auf sich ruhen. Sie schaute die beiden nacheinander an, und dann musste es einfach raus: Sie berichtete von ihrem Bruder, seinen Plänen bezüglich des Gablin-Internats und der Reaktion ihrer Eltern.

»Gablin? Der Name kommt mir bekannt vor.« Der grübelnde Blick von Sille ließ ihren Gesichtsausdruck deutlich weniger naiv aussehen als sonst üblich. Diese Steilvorlage, sein fundiertes Wissen präsentieren zu können, ließ sich Tüte nicht entgehen und entgegnete: »Gablin … genauer gesagt: Professor Edgar-Paul Gablin … stammt aus einer reichen, schottischen Familie, die ihre Milliarden hauptsächlich mit Bodenschätzen gemacht hat, und natürlich auch mit dem geschickten Umgang mit diesen Milliarden. Er selbst lehrte lange Zeit am Massachusetts Institute of Technology, dem MIT, und steht hinter einer bekannten Stiftung für Hochbegabte. Die Fachwelt hat aber schon länger nichts mehr von ihm gehört. Wahrscheinlich ist er emeritiert.« »Mit sowas kenne ich mich nicht aus«, gab Sille schulterzuckend zu und wandte ihren Blick zu Alexa: »Und dieses Internat ist auf einer Insel in Dänemark? Und da will dein Bruder dann ab Sommer zur Schule gehen?« Alexa holte Luft, um Sille bejahend zu antworten. Da hörte sie schon Tüte sagen: »Nicht nur dort in Dänemark hat Gablin ein Internat. In der ganzen Welt! Dutzende! Er ist ein großer Förderer von jungen, besonders begabten, intelligenten Menschen; wie eben auch Alexas Bruder definitiv einer ist. Um es in der Sportsprache zu sagen: Er betreibt in seinen Internaten sozusagen Jugendarbeit.« »Und warum kann der Junge dann nicht zumindest hier in der Nähe in ein Internat von diesem Gablin gehen?«, wollte Sille wissen. »In den internationalen Maßstäben in denen sie dort denken, ist Dänemark schon in der Nähe. Die Kinder müssen wohl generell in ein Internat im Ausland«, antwortete Alexa, um dann noch hinzuzufügen: »Ich versteh das nicht. Warum lassen meine Eltern ihn nicht noch hier das Abitur machen? Dieses Internat ist doch nicht nur einfach eine Schule. Die Schüler gestalten ihre Lehrpläne sehr eigenverantwortlich mit, und nicht nur die Lehrpläne. Es ist eher eine Gemeinschaft für Intelligenzbestien.« »Ich dachte, dein Bruder sei erst zwölf, dann dauert das ja noch eine Weile bis er Abi hat?« »Von wegen! Alexas Bruder ist schon in der elften Klasse. Er hat in gut zwei Jahren sein Abi in der Tasche. Hochbegabt!« Tüte unterstrich seine letzte Aussage mit einem wissenden Nicken und Alexa meinte in seinem Blick auch ein bisschen Stolz zu erkennen. Dabei kannte er Max eigentlich kaum.

Die beiden hatten sich nur einmal in der Stadt auf dem Weihnachtsmarkt getroffen. Alexa stand gerade mit ihm und einigen Kommilitonen an einem Glühweinstand, als Alexas Mutter und Bruder zufällig vorbeikamen. Alexas Mutter wirkte damals sichtlich erleichtert über das zufällige Zusammentreffen und vertraute Max mit einem Augenzwinkern seiner großen Schwester an. Dann verschwand sie im Gewühl der kaufsüchtigen Menge. Alle Anwesenden, auch Max, wussten, dass er nun seine Weihnachtsgeschenke gekauft bekommen würde. Alexa blieb noch gut eine Stunde mit ihrem Kinderpunsch trinkenden und gebrannte Mandeln in sich reinstopfenden Bruder auf dem Weihnachtsmarkt. In ihrem Schlepptau: Tüte, der dort eigentlich musizieren wollte. Aber zum einen hatte er zu viel Glühwein intus, und zum anderen diskutierte er fasziniert mit Max über Gott und die Welt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Da wurde Mandeln kauend erörtert, ob der Ignostizismus den Agnostizismus erweitert oder impliziert, oder ob der Buddhismus als theistische oder atheistische Bewegung angesehen werden muss. Diesem wissenschaftlichen Gespräch über Religion, fehlte es jedoch an jeglicher spirituellen Note.

»Stell ich mir hart vor, mitten in der Pubertät sein Abi bauen zu müssen. Hochbegabt oder nicht.« Sille sprach es und blickte etwas verklärt aus dem Fenster. In diesem Moment stand Tüte auf, ging an den Küchenschrank, kramte in seinem Lebensmittelfach herum, kam mit einer kleinen Flasche an den Tisch zurück und schüttete in die dampfenden Tassen jeweils einen Schluck Cognac. Dann nahm er seine Tasse in die Hand, prostete den beiden Frauen in der Luft zu und sagte: »Auf die Pubertät! Diese schrecklich süsse Zeit.«

Gut zwei Stunden später, sie waren längst beim Bier angekommen, hing eine fast schon greifbare Rührseligkeit im Raum. Sille hatte noch immer ihren Bademantel an, welcher schon deutlich lockerer saß als zum Beginn des Abends. Tütes Blicken zu folge, schien ihn das jedoch nicht im geringsten zu stören; im Gegenteil. Aber selbst dieser Anblick hielt ihn nicht vom Philosophieren ab: »Wenn ich mal groß bin, dann gründe ich 'ne Kommune für Hochbegabte. Aber alles gemeinnützig! Nich' für so einen megareichen Fuzzi. Der hat doch sowieso schon zu viel. Un' will immer noch mehr! Gibs sowas nich' schon? Ne' alternative Förderungsanstalt für Schlauköppe? So mit Biosiegel für'n Kopp? Alexa? Wie kommst’n heim? Kannst auch bei mir pennen.« »Nix da, du … du Knall… Tüte!«, fuhr Sille ihren Mitbewohner an und verschloss dabei ihren Bademantel tugendhaft. »Aber bei mir kannste pennen. Wenn'ste willst. Hab' noch 'ne Gästematratze unter'm Bett.«

Kapitel 5

Abnabelung

»Max? Was machst du da?« Alexa war gerade filmreif in Max' Zimmer gestürmt. Sie wollte ihn nun endlich unter vier Augen zur Rede stellen. Bisher hatte sie dazu noch keine richtige Gelegenheit gefunden. Nachdem er die Küche während Alexas Streits mit ihrer Mutter klammheimlich verlassen hatte, war er zunächst einmal spurlos verschwunden, und Alexa dann noch vor seiner Rückkehr zu Tüte gegangen. Dort hatte sie die Nacht in dem seit kurzem leer stehenden Zimmer seiner WG verbracht, und war gegen Mittag mit einem gehörigen Kater sowie hartnäckigen Schulter- und Rückenschmerzen nach Hause gekommen. Trotzdem hätte sie am liebsten den direkten Weg in Max' Zimmer genommen, hatte sich dann aber doch für eine Dusche und etwas Kosmetik entschieden. Durch die angespannte Stimmungslage zwischen ihr und ihrer Mutter, war ihr wenigstens die Moralpredigt erspart geblieben, die ihr nach einer außerhalb der elterlichen Wohnung verbrachten Nacht üblicherweise blühte. Obendrein war ihr inzwischen auch noch etwas klar geworden: Sie musste ausziehen. Unbedingt! Es ging einfach nicht mehr so weiter. Sie war fast 23 und musste sich noch wie eine 15-Jährige belehren und ausfragen lassen. Und das nicht nur, wenn sie mal eine Nacht nicht nach Hause kam. Alleine die Frage ihrer Mutter: »Wie läuft es in der Schule?«, brachte Alexa jedes Mal fast um den Verstand. Erklärte sie ihrer Mutter anfangs noch, dass es keine Schule, sondern eine Universität sei; hatte sie dies inzwischen längst aufgegeben. »Gibt es da einen Unterschied? Wird ja schon nicht so wild sein.« So oder so ähnlich, lautete dann nämlich immer die Entgegnung ihrer Mutter.

Nun, da ihre Eltern noch ein paar Besorgungen machen gegangen waren, sah sie den perfekte Zeitpunkt gekommen, sich das kleine Genie mal vorzuknöpfen. Sie fand ihn auf dem Bett sitzend vor. Aber zu ihrer Überraschung nicht wie üblich mit einem Buch oder seinem Notebook auf dem Schoß, sondern mit seinen Händen. Auch saß er nicht wie sonst immer, mit einem dicken Kissen im Rücken an das Rückteil seines Bettes gelehnt, sondern in seiner Mitte, aufrecht in einer Art Schneidersitz. Er sah aus wie ein junger, viel zu dünner Buddha … mit Haaren. Sein Oberkörper war entblößt, die Augen geschlossen. Bloß der fehlenden Geruch von Räucherstäbchen und die Abwesenheit von Sitar-Musik und indischem Tand, ließ Alexa noch darauf schließen, dass dies das Zimmer von ihrem Bruder war, und nicht das von Sille.

Nachdem sie ihre Verwunderung lautstark kundgetan hatte, öffnete Max langsam seine Augen, sah Alexa in aller Seelenruhe an und klopfte neben sich auf die Bettdecke. Alexa nahm das Angebot jedoch nicht an und blieb im Türrahmen stehen. »Ich bereite mich auf das Internat vor. Sie haben mir schon mal ein paar Übungen beigebracht. Diese hier soll mir helfen, mich hundertprozentig auf etwas zu konzentrieren. Dass du mich so leicht aus meiner Konzentration reißen konntest, zeigt, dass ich noch viel üben muss.« Max schaute Alexa lächelnd an und schien auf ihre Erwiderung zu warten. »Warum sprichst du plötzlich so?« Von den tausend Fragen in ihrem Kopf, war dies die erste, die Alexa formulieren konnte. »Wie spreche ich denn?«, wollte Max nun seinerseits wissen. »In ganzen Sätzen!«, antwortete Alexa. Max lachte leicht auf und erläuterte ihr dann: »Das gehört auch zu meinen Übungen. Ich soll mich klar und deutlich ausdrücken. Und nicht nur das, auch soll ich klar und deutlich denken; sowohl in Deutsch als auch in Englisch. Im Englischen fällt mir das fast leichter, das ist noch nicht so ver…« Max unterbrach sich selbst und setzte dann noch mal an: »Ich wollte sagen: Mein Englisch ist schulmäßiger.« »Und das lässt du dir einfach so von denen sagen? Wenn das vor einer Woche noch jemand von dir verlangt hätte, hättest du ihn milde belächelt und dich einen Dreck darum geschert. Was ist mit dir los? Ist alles in Ordnung?« »Jetzt mach mal keinen Wind. Alles ist in Ordnung. Ich will nur da hin. Die Woche war so … so cool! Wirklich! Endlich wurde ich mal herausgefordert! Endlich waren da mal ein paar Leute, die besser waren als ich und von denen ich was lernen konnte. Das will ich nicht vermasseln! Ich werde an meinen Defiziten arbeiten und die liegen vor allem in der Aussprache und bei der Konzentration. Wann hab ich mich denn mal so volle Kanne konzentrieren müssen? Lief doch auch so immer ganz gut.« Alexa nahm nun die Einladung, sich neben ihrem Bruder zu setzen, doch stillschweigend an; der daraufhin seine Sitzhaltung auch etwas lockerte. »Wenn du hier weg gehst, dann werde ich auch ausziehen.« Alexa schaute ihrem Bruder in die Augen, worauf er nickte und sprach: »Mach das. Du bist sowieso schon zu lange hier.« Alexa nickte ebenfalls und schaute wehmütig aus der Tür. An der gegenüberliegenden Wand hingen Kinderfotos in gebrauchten Bilderrahmen. Nach einem Moment der Stille, der auf sie länger wirkte als er war, drehte sich Alexa ihrem Bruder zu und zwang sich zu einem Lächeln: »So! Und nun erzähl mal von deinem kleinen Ausflug. Ich will alles wissen!« Max lachte, setzte sich in der Alexa so vertrauten Art an das Rückteil seines Bettes und fing an zu berichten.

Wieder in ihr Zimmer zurückgekehrt, schnappte sich Alexa ihr Handy und ließ es Tütes Nummer wählen. »Na? Wieder nüchtern?« Keine andere Begrüßung hatte sie erwartet und antwortete mit gespielt gereiztem Unterton: »Nee, hab mir noch was mit nach Hause genommen. Vermisst du dein Rasierwasser noch nicht?« »Dazu hätte ich mich rasieren müssen. Aber brennt dir das After-Shave-Balsam nicht einen mächtigen Pelz auf die Zunge? Wundert mich, dass du überhaupt sprechen und mich anrufen kannst.« Nun lachten beide und fuhren dann mit einer Kurzanalyse des vergangenen Abends fort. Dann fragte Tüte sie, warum sie schon wieder anrufe? »Sag mal, das kleine Zimmer, in dem ich heute Nacht gepennt hab. Ist das schon wieder vermietet?« »Nee, du kannst es sicher haben.« Alexa war leicht perplex und fühlte sich wie ein nackter Cowboy bei einem Duell. »Ähm … ja. Also…« »Komm am besten gleich mal vorbei. Sille will gerade mit dem Kochen anfangen und Lars und Steffi sind auch da. Dann können wir das gleich mal besprechen. Du magst doch indisch?«

»Und das alles zusammen für 250 Euro. Warm.« Lars hatte Alexa gerade die Eckdaten des freien Zimmers heruntergebetet und schaute dann zu Tüte herüber: »Und wenn der die Kammer nicht will, dann … von mir aus gern.« Tüte schüttelte mit dem Kopf und fügte dann mit einem gönnerhaften Unterton hinzu: »Ich bin fahrendes Volk!« »Du bist ein Spinner!«, korrigierte ihn Steffi; woraufhin alle lachten … auch Tüte. Sie war die Jüngste der Anwesenden und nur wenige Tage vor Tüte in der WG eingezogen. Alexa ging davon aus, dass sie Philosophie studierte, denn sie hatte mal mitbekommen, dass Steffi in ihrem Zimmer zwei Ratten hielt; die männliche hieß Phil und das Weibchen Sophie. Mit ihrem schmalen Gesicht, ihren kurzen schwarzen Haaren und den ausdrucksstarken braunen Augen, hatte sie etwas von Winona Ryder im letzten Alien-Film mit Sigourney Weaver. Lars hingegen war der Einzige in der WG, der nicht studierte. Ihm gehörte nicht nur ein Tee-Geschäft in der Innenstadt, sondern auch dieses Haus. Er war etwas mollig, hatte nur noch schütteres Haar und ging stark auf die vierzig zu. Dass er der Besitzer des Hauses war, ließ sich Lars aber selten anmerken. Außer indem er hin und wieder zu gemeinsamen Arbeitseinsätzen zur Instandhaltung des Hauses einlud. Seine Mieter folgten diesen Einladungen durchaus gerne, endeten sie doch immer in einem kleineren oder größeren Fest.

Insgesamt gab es in dem noch recht zentral, aber doch ruhig gelegenem Gründerzeithaus, fünf Wohnungen und im Erdgeschoss einen Weltladen. Die Wohnung im ersten Stock war die, in der Lars selbst lebte, und in die nun auch Alexa einziehen wollte. Wie sie gerade bei einer kurzen Führung gezeigt bekommen hatte, verfügte die Wohnung über sechs Zimmer, eine Küche, ein Bad mit Wanne und Dusche, eine weitere, separate Toilette und einen riesigen Balkon; der das Dach, der neben dem Haus gelegenen Garage bildete. Die Garage nutzte Lars als Haus-Werkstatt. In der Küche gab es eine Klöntür, die nach Außen zum Balkon und zu einer schmalen Wendeltreppe führte. Die obere Hälfte der Tür war zugleich auch ein Fenster. Über die Wendeltreppe hatte man einen direkten Zugang zu dem kleinen, hinter dem Haus gelegenen Garten. Auf der kleinen Plattform zwischen Balkon, Hauswand und der Treppe, stand gemütlich ein Kunststoffsessel in Rattan-Optik. Lars selbst bewohnte zwei Zimmer; das größte der Wohnung und ein kleineres. Die beiden Räume waren durch eine Durchgangstür miteinander verbunden. Silles und Tütes Zimmer waren mit gut zwanzig Quadratmeter etwa gleich groß und Steffis Zimmer war kaum kleiner. Das Zimmer, dass sie in der WG die Kammer nannten, hatte eine Grundfläche von wohlwollenden vierzehn Quadratmetern und ein Fenster mit Blick auf das Flüsschen Wieseck und den zu ihm gehörenden Grünstreifen. Im zweiten und dritten Stockwerk gab es auf der Grundfläche der großen Wohnung jeweils zwei Dreier-WGs und darüber den Dachboden. Diesen wollte Lars schon länger zu einer weiteren Wohnung ausbauen. Das er dies noch nicht getan hatte, hatte Sille am Vorabend die Vermutung äußern lassen, dass er diese dann zu einem schnuckeligen Penthouse für seine Nach-WG-Zeit ausbauen lassen wolle. Sicher spielte es aber auch eine Rolle, dass Lars das Haus erst kürzlich hatte sanieren lassen. Die Wärmedämmung und die Fenster wurden erneuert und eine Solar- und Photovoltaik-Anlage auf dem Dach installiert. Zudem wurde die alte Ölheizung durch eine Pelletheizung ersetzt. Da war eine weitere große Investition vorerst sicher nicht mehr drin.

Kapitel 6

Unter BWLern

Alexa saß nun schon seit einer guten Stunde an ihrem Lieblingstisch und wartete auf ihren neuen Mitbewohner. Es ging schon auf Mittag zu. Sie hatte bereits ihren dritten Kaffee getrunken und den vierten Smalltalk mit irgendwelchen flüchtigen Bekannten überstanden, als Tüte mit wenig schuldbewusstem Gesichtsausdruck in die Cafeteria einbog. Bereits im Eingangsbereich erblickte er Alexa und machte nach einem kurzen Grußzeichen einen Schlenker Richtung Kaffeeautomat.

Tüte stellte Alexa einen Pott mit dampfendem Kaffee vor die Nase, legte seine Notebook-Tasche auf einen freien Stuhl und seine Jacke darüber. Noch beim Hinsetzen, und während er seinen Pott Kaffee vor sich stellte, fragte er Alexa: »Erinnerst du dich noch an den schicken USB-Stick, den wir vor ein paar Tagen oben im Rechnerraum im 4. Stock gefunden haben?« »Ja … du treulose Tomate … an den erinnere ich mich. Aber wo bleibst du? Ich warte schon ewig auf dich!« Alexa wusste ganz genau, dass solche Ermahnungen an Tüte abprallten, wie Sand an Marmor. Doch ging es ihr ums Prinzip. Wer könnte schon wissen, wie lange sie inzwischen auf ihn würde warten müssen, wenn sie ihm nicht regelmäßig ein schlechtes Gewissen machen würde? Oder es zumindest versuchte.

»Das will ich dir ja eben erklären. Also: …« Tüte schaute sich um, wie in einem schlechten Agentenfilm und fixierte dann Alexa, um halb flüsternd fortzufahren: »Du erinnerst dich auch, dass das Teil kaputt zu sein schien.« »Japp! Sonst hätte ich dich ihn ja auch nicht mitnehmen lassen. Wir dachten, dass er dort so unachtsam im Rechnerraum liegen gelassen worden wäre, eben weil er kaputt war. Was ist mit dem Teil? Kaputt ist er ja scheinbar nicht?!« Tüte schüttelte triumphierend den Kopf und rückte noch etwas näher an Alexa heran. »Nein! Das ist er nicht!« Er schaute Alexa mit einem Blick an, als ob er sie gerade davon in Kenntnis gesetzt hätte, dass er völlig zu recht alle Nobelpreise auf einmal verliehen bekommen hätte. »Dann wirst du ihn wohl doch beim Hausmeister abgeben müssen.« Alexa wusste, dass sie mit diesem Vorschlag auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Aber sie konnte es einfach nicht unterlassen, in die Rolle seines persönlichen Moralapostels zu schlüpfen. Tüte war manchmal wie ein kleines Kind, dass hin und wieder einen dezenten Fingerzeig in Richtung Tugend, Sitte und Moral gebrauchen konnte. Und warum auch immer, er schien ihr diese Rolle gerne abzunehmen.

»Nein, das kommt nicht in Frage! Auf keinen Fall!« »Wieso? Hast du darauf Pornomaterial von Keira Knightley gefunden oder die geheimen, frivolen Tagebücher von unserm Professor Schmitt?« Alexa musste über ihren eigenen Witz lachen. »Pscht! Nein, unser kleines Fundstück ist nämlich gar kein normaler Speicherstick. Drum sind da auch keine normalen Daten drauf.« Tüte machte eine kurz Verschnaufpause und nahm ausdrucksstark einen tiefen Schluck aus seiner Tasse. »Wir … also Pat, sein Mitbewohner Steffen und ich … wir haben uns das gute Stück mal genauer angesehen. Dass das Teil dort im Computerraum scheinbar gerade erst benutzt worden war, doch für uns überhaupt keine Funktionalität zu haben schien, machte uns stutzig. Pat hat den Stick nach allen Regeln der Kunst durchgemessen und dabei festgestellt, dass er eigentlich voll funktionsfähig sein müsste. Nur dass er für uns ohne erkennbaren Nutzen zu sein scheint. Und das ist ungefähr so, wie wenn man auf dem Mars ein Radio findet. Da wundert man sich doch auch!« Tüte schaute Alexa nun erwartungsvoll an und nippte dabei an seinem Kaffee. Alexa tat ihm den Gefallen und brachte den Ball zurück ins Spiel: »Und?« Tüte nahm ihn auf Anhieb wieder auf und dozierte sogleich weiter: »Wir machten unzählige Tests mit dem Teil, aber irgendwie passierte nichts. Nada, nothing, njet! Wir haben aber auch irgendwie keinen richtigen Ansatzpunkt gefunden und hatten somit auch keine Ahnung, wie wir mit dem Teil kommunizieren sollten.« Gedanken versunken, fasste sich Tüte ans Kinn und schaute dabei in seinen Kaffeepot. Nach dieser kleinen Kunstpause setzte er wieder an: »Und nachdem wir fast die ganze Nacht dran saßen, wollten wir eigentlich schon aufgeben. Doch dann hatte es Pat plötzlich geschafft ein paar Daten zu isolieren. Nur ein paar Bytes. Daraufhin schöpften wir nochmals Hoffnung und ließen alle möglichen und unmöglichen Algorithmen zur Entschlüsselung drüber laufen. Doch das Ding ließ sich nicht hacken. Doch nach…« Tüte schaute auf die Uhr an der Wand. »Vor gut einer halben Stunde, wir wollten nun wirklich endgültig aufgeben, und Steffen pennte auch schon lange auf Pats Sofa, da schnappte die Tiger-Tree-Rainbow-Table zu. Pat hat das gute Stück von seinem schwedischen Internet-Buddy Mikkel.« Wieder sah sich Alexa mit Tütes erwartungsvollen Blick konfrontiert: »Und?« »Dreimal darfst du raten, was der Byte-String im Klartext bedeutete?« Alexa spürte, wie ein leicht unterschwelliges Gefühl von Interesse in ihr aufstieg. Sie kramte schon in ihrem Gedächtnis herum, denn sie wusste, dass Tüte sie niemals mit einer solchen Information versorgen würde, ohne dass sie wirklich dreimal geraten hätte. Doch dann stand plötzlich Jule neben ihr. Freudig fing diese an zu plappern: »Alexi! Mensch Mädchen! Was hast du denn da an? Und die Haare … nennst du das eine Frisur?« Jule war eine ehemals beste Freundin aus der Oberstufe. Sie studierte nun BWL und hatte solche Freunde wie Dolce & Gabbana und Nino Cerruti. »Hosen, Socken, Schuhe, Unterwäsche, …« Jule lachte schrill und leicht künstlich anmutend. »Ach, Alexi! Immer noch sooo witzig!« Sie wollte sich schon Tütes Jacke annehmen, um sich den Stuhl darunter schnappen zu können. Doch nach einem kurzen Blick auf den in die Jahre gekommen und augenscheinlich auch länger nicht mehr gereinigten Bundeswehr-Parka, ließ sie leicht angewidert von dem Plan ab. Jetzt würdigte sie Tüte eines ersten, aber dafür sehr herablassenden Blickes und zeigte mit weit von sich gestrecktem Zeigefinger auf das Kleidungsstück. Es wurde mehr als klar, dass diese Jacke weit unter ihrem Niveau zu sein schien. »Deine?« Tüte nickte, machte aber keine Anstalten, die Jacke von dem Stuhl zu nehmen. Mit einem freundlichen, aber all zu deutlich künstlich aufgesetztem Gesichtsausdruck, bat sie nun: »Würde dir es was ausmachen, dieses modische Verbrechen mal da weg zu nehmen? Ich würde mich gerne setzen.« Mit einem Blick, der starkes Missfallen ausdrückte, ergriff Tüte seinen Parka samt darunter liegender Notebook-Tasche und legte sie auf Alexas Sachen, die auf dem vierten am Tisch stehenden Stuhl lagen. Alexa fragte sich, ob Tüte nun Peter Altenberg zitieren würde? Was er üblicherweise tat, wenn jemand etwas über Mode sagte. Und er tat ihr den Gefallen: »Mode ist ein ästhetisches Verbrechen an und für sich. Sie will weder das endgültig Gute, noch das Schöne oder Zweckmäßige. Sie will immer nur etwas anderes.« Und auch Jules Reaktion hatte Alexa irgendwie schon vorausgeahnt. Sie schaute Tüte für einen kurzen Augenblick durchdringend an, um ihn von da an geflissentlich zu ignorieren.

»Also, meine Liebe! Ich höre du bist zu Hause raus?! Wurde auch mal Zeit. Also ich … ich wohne ja schon seit Beginn des Studiums in einem schicken Appartement hier in der Nähe. Mein Vater meinte, dass ihm das gar nicht passen würde, wenn ich in so eine Wohngemeinschaft ziehen würde. Womit er natürlich recht hat.« Jules Vater hatte für sie ein kleines Appartement in Uni-Nähe gekauft; und damit in einer extrem begehrten Wohnlage. Was seinerseits natürlich auch eine Zukunftsinvestition war. Wenn Jule nach ihrem Studium in eine der Metropolen der Welt ziehen würde, würde sich die Wohnung … oder um in Jules Sprachgebrauch zu bleiben: das Appartement … erst so richtig rechnen. Jules Vater, ein erfolgreicher Geschäftsmann aus altem Gießener Geldadel, hatte sicher mehr als diese eine Wohnung, die er an Studierende vermietete. Mit Studierenden lässt sich in jeder Hochschulstadt gutes Geld verdienen.

»Und du wirst es nicht glauben, die ist immer noch mit diesem Halbaffen zusammen. Wie kann man nur mit so einem … Alexi? Hörst du mir überhaupt zu?« »Ja, ja, natürlich. Du, Jule? Mein Freund hier und ich, wir wollten gerade noch was für die Uni…« »Klar doch, mein Alexchen. Bin ja gleich weg. Ich wollte dir nur noch schnell…« In diesem Moment stand Tüte abrupt auf. Die beiden Frauen schauten gleichzeitig zu ihm hoch, und beobachteten ihn dabei, wie er seinen Parka überstreifte und seine Tasche schnappte. »Tüte?! Du kannst doch jetzt nicht … wir sind doch noch gar nicht durch!« »Muss weg.« Er hielt Alexa einen kleinen mehrfach gefalteten Zettel hin. »Hierauf steht alles, was wir … ähm … ich noch zu … ähm … unserem Studienprojekt weiß. Wir sehen uns heute Abend. Ciao.«

»Ja, klar … Studienprojekt.« Jule schaute hinter Tüte her, der beim Verlassen der Cafeteria einen flüchtenden Eindruck machte. »So sind sie, diese Ökos. Fast schon irgendwie romantisch. Unsereins bekommt ja keine Liebesbriefchen mehr. Das geht jetzt alles per SMS. Oder per Facebook. Es ist 2009; StudiVZ macht keiner mehr.« Sie zwinkerte Alexa zu und wirkte dabei in Alexas Augen auf eine billige Art obszön, die sicher deutlich unter ihrer anerzogenen Berufstöchterchenwürde gewesen wäre, hätte sie sie bei jemand anderem beobachtet. Alexa überlegte kurz, ob sie Tütes Zettel jetzt gleich lesen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Wer konnte schon wissen, was Jule dazu noch alles einfallen würde. Doch diese Zettel-Aktion, machte die Sache mit dem Stick für Alexa nun wirklich interessant. Sie überlegte angestrengt, wie sie Jule schnellstens wieder los werden konnte. Diese hatte jedoch schon wieder das Thema gewechselt und berichtete voller Entzücken von ihrem letzten Snowboard-Ausflug mit ihren Ach so crazy! Freunden. Alexa beschloss, es nun einfach alles über sich ergehen zu lassen. In ihrer ganzen Skurrilität hatten diese Geschichten ja auch ihren Reiz. Bis noch vor gut vier, fünf Jahren, jeweils in den Pausen und nach der Schule, hatte sie förmlich an Jules Lippen geklebt, wenn diese von den vielen Urlauben und Kurztrips mit ihrer Familie oder ihren Freunden berichtete. Von solchen Reisen und Erlebnissen konnte sie damals nur träumen; und tat es auch. Ihre Eltern waren mit Max und ihr lediglich an die Ostsee zum Camping gefahren. Ihr Großonkel hatte dort zwischen Lübeck und Fehmarn als Dauercamper einen Wohnwagen stehen. Was für Alexa soweit auch in Ordnung war. Die wirklich durchgeknallten Sachen ließ sie notgedrungen die anderen erleben; was zugegebenermaßen auch teilweise ihren Neigungen entsprach. Das war es zu einem großen Teil auch, was sie an ihrem Studium so reizte: Im Netz konnte man vieles mit einer ihr angenehmen Distanz erleben und erfahren; ohne sich selbst durch die Weltgeschichte bemühen zu müssen.

Jule war inzwischen bei den pikanteren Details über ihre gemeinsamen Schulfreunde angelangt, als plötzlich zwei junge Männer neben ihnen standen. Jule sprang sofort mit einem freudig-quietschenden Gejohle auf, um die beiden würdig mit Küsschen link, Küsschen rechts und abgewinkeltem Bein zu begrüßen. »Jungs! Das ist Alexi. Meine alte Schulfreundin.« Jule, die sich an den einen der beiden kuschelte, blickte mit den Jungs zu Alexa rüber, die daraufhin ihren Pott mit inzwischen kaltem Kaffee ergriff und zum Gruß erhob. Eine Geste, die ihr sofort unglaublich peinlich und provinziell vorkam. Mit roten Wangen und in den Ohren pulsierendem Blut, nahm sie die Namen der beiden kaum wahr, als sie ihr von Jule vorgestellt wurden.

»Mädels, was macht ihr hier? Ihr trinkt doch nicht diesen unglaublich schlechten Kaffee?!«, sagte der nicht mit Jule kuschelnde, durchaus attraktive Mann. Alexa verspürte kurz den Drang, ihm erklären zu wollen, dass der Kaffee sehr wohl gut und sogar aus fairem Handel sei. Doch dann entschied sie sich, dies lieber bleiben zu lassen. Sie wollte nicht schon all zu frühzeitig als Öko abgestempelt werden. Wahrscheinlich wäre sie auch gar nicht dazu gekommen, denn aus Jule sprudeltet es schon wieder freudig heraus: »Sollte das etwa eine Einladung zu einem schönen Glas Latte Macchiato in einem stylishen Etablissement sein?«

Kapitel 7

Verschwunden

Es brannte noch Licht in der Küche, als Alexa in die WG polterte. Das passte ihr gut, sie hatte mächtigen Hunger. Dieser Sushi-Kram hatte sie nicht wirklich satt gemacht. Als sie in den hellerleuchteten Raum eintrat, saß dort Tüte. Sie versuchte angestrengt einen halbwegs nüchternen Eindruck zu machen. Vor ihm stand sein laufendes Notebook, jedoch von ihm scheinbar unbeachtet. Er starrte durch den Bildschirm in die Ferne. Alexa konzentrierte sich darauf nicht zu nuscheln, brachte jedoch lediglich ein wenig verständliches »Hiho!« heraus und riss damit Tüte aus seiner Lethargie. Er fixierte sie mit einem dumpfen Gesichtsausdruck. Alexa konnte diesem Blick nur wenige Sekunden widerstehen, dann sprudelte es aus ihr heraus: »Okay, okay … isch bin ein bisschen voll. Unn? Kann doch ma' passie'n.« Dem hatte sie es aber gegeben! Einfach so die Wahrheit auszusprechen, konnte eine erstaunlich befreiende Wirkung haben. Hätte sie die Wahrheit doch früher schon einfach mal geradeheraus ausgesprochen: bei ihrer Mutter. Nur allzu oft hatte sie diese angeflunkert. Einfach um dadurch den Weg des scheinbar geringsten Widerstands zu gehen und sich so ihrer Bevormundung zu entziehen. Erst jetzt wurde Alexa mühsam bewusst, dass ihre Mutter auch nicht dumm war. Sicher kannte sie ihre Tochter gut genug, um sie zu durchschauen. Diese Gewissheit, dass sie das Vertrauen ihrer Tochter verloren hatte, gepaart mit ihrer mütterlichen Liebe, machte daraus jenes dauerhaft angespanntes Verhältnis, welches beide Seiten über viele Jahre hegten und pflegten.

Während Alexa noch ihren erkenntnisreichen Gedanken nachhing und dabei leicht belämmert an der schon etwas in die Jahre gekommenen IKEA-Küchenzeile lehnte, stand Tüte langsam auf, ging zum Küchenschrank, holte dort eine Tasse heraus und ging zur Kaffeemaschine. Dort in der Kanne befand sich noch etwas Kaffee, der kurze Zeit später unter Alexas Nase gehalten wurde. Er roch äußerst aromatisch, und er dampfte, was darauf schließen ließ, dass er noch ziemlich frisch war. Alexa überlegte kurz, ob ihr nach dem Saufgelage mit Jule und den Jungs angeschlagener Magen, diesen Koffeinschub heil überstehen würde? Da schaute ihr Tüte ernst in die Augen und sagte: »Trink! Du wirst es brauchen.« Etwas überrascht griff Alexa zur Tasse und trank. Der Kaffee war wirklich noch sehr frisch, und leider auch noch ziemlich heiß. Alexa zischte und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. »Mistkacke! Jetz' hab ich mir den Schnabel verbrannt.« Doch Tüte hatte sich schon umgedreht und dem Wasserkocher zugewandt. Alexa fluchte noch ein wenig. Dabei beobachtet sie Tüte, wie er eine Gemüsebrühe zubereitete. »Willste mich noch mehr foltern?«, fragte sie und ihr wurde leicht übel bei dem Gedanken, jetzt eine Brühe löffeln zu müssen.

»Ich hab dir noch ein bisschen kaltes Wasser rein gemacht. Daran solltest du dir nicht mehr den Schnabel verbrennen«, wies sie Tüte an, als er ihr eine kleine Schüssel mit Brühe auf den Küchentisch stellte und ihr einladend den Stuhl etwas zurückrückte. Alexa grummelte ein wenig und hätte wirklich lieber ein Stück Pizza oder ein Sandwich verdrückt, aber sie fügte sich in ihr Schicksal. Sie machte sich schon ausreichend Gedanken über Tütes seltsames Verhalten, so dass sie sich nicht auch noch mit Auflehnen beschäftigen konnte.

Die Suppe hatte geholfen. Alexa fühlte sich nun schon deutlich nüchterner. Sie hatte sich sogar noch mal an den Kaffee herangetraut. So gestärkt, spürte sie nun Müdigkeit in sich aufsteigen. Sie musste gähnen. Doch mit Tüte war irgendetwas nicht in Ordnung. In der Viertelstunde seit Alexa in die WG gepoltert war, hatte er nicht mehr als absolut nötig gesprochen und zudem einen sehr abwesenden Eindruck auf sie gemacht. Sie versuchte noch einmal alle Kräfte in sich zu bündeln, um ihn zu fragen, ob etwas geschehen sei, als er sie mit seinen plötzlich geröteten Augen fixierte: »Pat ist weg!« Alexa hatte die Worte wohl vernommen. Aber sie kamen ihr vor, wie in einer ihr nicht sehr geläufigen Sprache gesprochen. Obendrein schien sich der Satz, um ihr Bewusstsein zu erreichen, in ihrem Gehirn durch ganz besonders schwerfällige Windungen kämpfen zu müssen. »Und nicht nur er…« Tüte machte eine Pause, scheinbar um sich zu sammeln. »Auch seine Sachen. Alles. Möbel, Klamotten, seine Bücher und seine CDs. Alles.« »Wie? Ähm … woher …?« »Als ich heute Abend aus meinem Seminar raus bin, da hab ich versucht ihn zu erreichen. Doch er ging nicht an sein Handy und da bin ich zu ihm in die WG gefahren. Er machte aber nicht auf und sein Mitbewohner Steffen schien auch nicht da zu sein. Ich wollte schon wieder Richtung Bus aufbrechen, als Steffen um die Ecke kam. Er nahm mich mit rein und bot mir ein Bier an. Wir hockten uns in die Küche und beschlossen auf Pat zu warten und eine Runde Go zu spielen. Er spielt echt gut … also für einen Europäer. Nach einer Weile meinte Steffen, dass er mal in Pats Zimmer nachschaut, ob er nicht vielleicht noch ein paar Chips oder Salzstangen darumfliegen hat. Nur Sekunden später rief er mich aufgeregt in Pats Zimmer. Alles leer! Komplett. Sogar die Rollos an den beiden Fenstern waren weg. Alles weg … alles! Auch Pat.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783955950590
ISBN (Paperback)
9783955950606
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Nerd Fiction Science Fiction Fiction Gießen iuuq Cyberspace digitale Welt
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Titel: iuuq – Die gedachte Welt