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Meine Mutter Griechenland

©2013 0 Seiten

Zusammenfassung

Jannis Plastargias erzählt in diesem Buch Geschichten über Integration, Heimat, Fremde, Sprache und Sehnsucht. Als Deutscher mit griechischem Namen besitzt er das nötige Gespür, um so manches Klischee zu enttarnen und augenzwinkernd auf den Punkt zu bringen. Die wechselnden Erzähler der Geschichten spiegeln die Erfahrungen des Autors wider: „Es gibt weder „die Deutschen“ noch „die Griechen“, wir werden alle von so vielen Menschen und Dingen geprägt, aber auch von unserem eigenen Charakter, von unseren Erfahrungen, von unseren Stärken und Schwächen – wir sind alle so verschieden vom anderen, dass wir uns teilweise so fremd vorkommen“. Autor Jannis Plastargias, geboren am 6.7.1975 in Kehl, lebt in Frankfurt und ist freier Autor, Blogger und Diplom-Pädagoge. Unter schmerzwach.blogspot.de betreibt er einen erfolgreichen Blog und hat sich mit seinem Jugendroman „Plattenbaugefühle“ bereits einen Namen gemacht. Er stellt in einer eigenen Reihe auf der Website faustkultur.de des Autoren- und Künstlernetzwerks junge Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund vor.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mäuschen und Kätzchen / Το ποντικáκι και το γατáκι

Ich verschlief das Erdbeben. Am Morgen wachte ich auf und alles stand an einem anderen Platz. Bestürzt schaute ich, sechsjähriger Junge, in die verstörten Gesichter meiner Familie, samt Oma und Opa, die ich in diesem Moment nicht vor mir erwartet hatte. Kurzzeitig hatte ich vergessen, dass ich mich in Griechenland befand. Ich fragte, was denn hier für ein Aufruhr stattfinde. Mein Vater, der selten seine Nerven verlor – im Gegensatz zu meiner Mutter –, zog seine Augenbrauen hoch, wie er das immer tat, wenn er mich aufziehen wollte, und sagte in seinem vermeintlichen Insulaner-Singsang: »Du glaubst, dass jetzt ein Aufruhr herrscht? Dann weißt du nicht, was deine Mutter für einen Aufriss in der Nacht gemacht hat, als sie sich schon im Himmel wähnte, und mich dafür verfluchte, dass ich aus diesem Höhlenloch komme.« Irritiert fragte ich nach: »Höhle oder Hölle?« Er erwiderte: »Höhle natürlich. Sie glaubt wie die alten Griechen, dass Erdbeben aus Höhlen ausbrechen.« Er schüttelte sich dabei wie ein großer, dicker, lachender Bär und meine wütende Bären-Mutter schnaubte verächtlich: »Ach ja, ICH glaube. Ich bin Christin und glaube nicht an so einen Kokolores wie deine Leute. DIE denken doch, dass sie das auf Poseidon zurückführen können.« Mein Vater, der sich von solchen Kommentaren nicht beeindrucken ließ, lachte nur noch beherzter. Es war ein alter Streit zwischen ihnen, vielleicht etwas, das üblich war zwischen Insulaner- und Festland-Griechen, ich wusste es damals nicht und bis heute ist dies so geblieben. Während man den Insulanern aus der Ägäis ein frohes Gemüt nachsagte, dichtete man den Menschen aus Epirus immer eine Schwermut an. Dies konnte ich nicht beurteilen, die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich in Deutschland, und bereits da fiel es mir schwer, den badischen Dialekt zu verstehen, und noch mehr die ganzen Vorurteile und Klischees über Badener, Schwaben und Pfälzer nachzuvollziehen oder gar auseinanderzuhalten. Ich verschlief Erdbeben und alles, was mit dem Bewerten anderer Menschen zu tun hatte. Es ging mir auf die Nerven, wenn mich jemand fragte »Bist du Deutscher oder Grieche?«. Es ging mir auf die Nerven, wenn jemand wissen wollte, wie es denn sei, in zwei Kulturen zu leben, während ich mich irritiert fragte, welche beiden Kulturen gemeint sein könnten. Mir reichte es schon an Aufgabe, meine Eltern davor zu bewahren, sich tatsächlich an die Gurgel zu gehen, wie sie es verbal ständig taten, wie zwei Hähne, die ihr Revier markieren wollen, wie zwei Bullentiere, die ihre Hörner aneinander stoßen, oder wie Katz und Maus, wenn es gut lief.

Ich verschlief als Kind die Kirchgänge im Dorf, als wir in Griechenland im Urlaub waren. Etwas, das mich noch heute in meiner Meinung bestärkt, dass all die sonstigen Bemühungen meiner Mutter, aus mir einen guten Christen zu machen, zum Scheitern verurteilt waren, weil mein Fleisch noch mehr als mein Geist gegen solch eine religiöse Vergeistigung wetteiferte; sie bekam mich einfach nicht wach. Ich saß am stark lädierten Holztisch meiner Oma, die schon in meiner Kindheit halbblind war, ließ mir »Berg-Tee« machen, der den botanischen Namen Sideritis Tesan Flomis Cladestina trägt, wie ich allerdings erst sehr viel später – in meinem Erwachsenenleben, als ich nicht mehr nach Griechenland reiste – in Erfahrung brachte, und der nah verwandt mit dem Salbei ist. Dazu gab es schwarze Oliven und Weißbrot. Eine merkwürdige Mischung vielleicht, aber ich kam mir dabei immer so weise vor, vielleicht weil mein Opa seit fünfzig Jahren auf diese Frühstücksmischung schwor. Etwas übrigens, was meine Oma nicht so gut fand, denn sie wollte, dass ich in den wenigen Tagen, in denen ich in ihrer Nähe war, ihren selbst gemachten Käse und Joghurt essen sollte, doch, wie in vielen Alltagsdingen, konnte sie sich nicht gegen die stoische und rechthaberische Ruhe meines Opas durchsetzen. Was er sagte, befolgte sie wie ein Gesetz, da gab es nichts zu rütteln. Berühmt wurde in unserer Familie ihr Disput, wie viele Stunden der Joghurt in warme Decken eingewickelt werden müsste. Meine Eltern, die dem wohl in nichts nachstehen wollten, spielten diesen Streit regelmäßig in Deutschland nach, wenn sie auf die irrsinnige Idee kamen, Joghurt selbst herzustellen. Oma und Opa hatten ihr ganzes Leben in diesem Ort gelebt und nie etwas anderes gesehen. In ihrer Welt gab es das Wort Scheidung nicht, selbst als ihre Kinder ihnen von ihren ersten Trennungen erzählten, wollten sie das nicht wahrhaben, ignorierten es, vor allem mein Opa, der kein Problem damit zu haben schien, dass meine Tante, die vorher einen dunkelblonden grünäugigen Mann gehabt hatte, nach ihrer Scheidung einen braunhaarigen Braunäugigen mit nach Hause brachte, den er ebenso Nikos nannte wie den Mann davor, es war ihm einerlei, Wasilikis Mann war eben der Nikos. Ich beobachtete meine Oma jeden Morgen bei ihren Handgriffen, die sie in Zeitlupe ausführte, was mich total faszinierte, weil ich immer dachte, ich schliefe dabei ein, wenn ich sie selbst in diesem Tempo durchführte, die aber vor allem jeden Tag die gleichen zu sein schienen. Ich war ein Kind, ich versuchte, jeden Tag alles anders zu machen, eine andere Hand zu nehmen, den Finger anders zu halten, die Geschwindigkeit zu ändern, irgendetwas. Ihre Falten faszinierten mich, diese Falten, die davon zeugten, dass sie sich vermutlich ein um das andere Mal in den Schlaf geweint, vielleicht auch in der Küche eingeschlossen hatte, damit es keiner sah. Geweint, weil ihr Mann, mein Opa, sie einmal mehr zurechtgewiesen hat, geweint, weil ihr ältester Sohn nach Deutschland geflüchtet war, geflüchtet vor diesen ärmlichen und unglückseligen Verhältnissen.

Ich verschlief den qualvollen Tod meiner Oma. Das war sehr viel später. Jahrelang hatte ich mich geweigert, nach Griechenland mitzugehen; nun, in meinen Teenie-Jahren, sei ich ja wohl alt genug, um mit meinen Freunden zu verreisen. Man beschrieb mir diesen langsamen Tod der Großmutter kaum verständlich, ich ging davon aus, dass sie niemals schlief oder immer schlief, denn das Bild, das mir vermittelt wurde, war das Folgende: Sie sitzt in einem Schaukelstuhl, vor sich hinstarrend, nimmt nichts wahr, starrt an die Decke vielleicht, vielleicht auch an die Wand, nimmt aber ihre Kinder und Enkel nicht mehr wahr, regt sich nicht, zuckt nicht einmal mit ihren Augenlidern, starrt nur. Als Kind hatte ich ihre Agilität, ihre Kondition bewundert, ich konnte mir kaum vorstellen, wie sie untätig irgendwo saß. Mein Opa kümmerte sich nicht um sie, im Gegenteil: Er war bösartig wie eh und je zu ihr. Er höhnte: »Die war doch in ihrem ganzen Leben so, keinen Muckser gab sie von sich, nie hat sie sich gegen mich durchgesetzt, nie!« Meine Mutter war dann immer nahe dran, ihm nicht nur eine Ohrfeige zu geben, sagte sie, sondern eine für jedes verdammte Jahr, welches meine Oma mit diesem A… verbringen musste. So erzählte sie mir davon, und nur mein Vater habe sie regelmäßig daran gehindert, nicht etwa der Respekt vor dem Alter, auf den sie in so einem Fall pfiff, »Aber nicht so dein Vater«, lästerte sie, »da ist er plötzlich Christ und proklamiert irgendwelche Bibel-Psalmen, die das Alter ehren.« Ich hörte gar nicht richtig zu, vielmehr war ich damals mit mir beschäftigt, mit meinem Ziel, mich von der Familie, von der Geschichte abzunabeln, von diesen Mythen, die mein ganzes Leben nicht nur zu füllen, sondern zu überfüllen drohten. Eine Zeit lang hatte ich diese ganzen Anekdoten, Welt-Erklärungen, Entschuldigungen und Sehnsüchte einfach satt. Diese Sätze, die mit »Dein Opa musste noch …« oder »Dein Vater kam her, um den Entbehrungen zu …« begannen, ich konnte, ich wollte sie nicht mehr hören, sie gingen mich nichts mehr an. Auch die Erläuterungen meiner Mutter in ihren schlechten Momenten, als sie schon zu viel getrunken hatte, dass sie nur wegen mir und meiner Geschwister noch mit meinem Vater zusammen sei, sonst hätte sie … Das interessierte mich nicht, alles nicht. »Trenn dich doch von ihm!«, schrie ich ihr entgegen. »Mach doch, was du willst!« Und sie brüllte mich an: »Ja, genauso wie du, dein ganzes Leben lang schon, nie hat dich etwas außerhalb deiner Person interessiert!« Vermutlich hatte sie recht damit, doch mir war das gleich.

Ich verschlief meine erste Beziehung mit einer Frau. Bevor ich realisiert hatte, dass das etwas Festes sein sollte, führte sie mit mir schon das Beziehungsende-Gespräch, wie sie es nannte. Viel zu sehr von den Beziehungen verstört, die mir vorgelebt wurden, hatte ich nicht gemerkt, dass wir eine führten: Zu wenig Streit gab es da, zu wenig Kabbelei, zu viel Harmonie, zu viel Geknutsche, zu viel lächeln, lachen, sich freuen. Wir lernten uns mehr durch Zufall kennen: Wir waren beide auf eine Party eingeladen und liefen uns über den Weg, als wir das Haus suchten, das, was wir nicht wussten, im Hinterhof zu finden war. Sie, die blonde, blauäugige Hamburgerin, mit ihrer aristokratischen Sprechweise, ich, der mit seinem dunklen Teint im Sommer, mit seinen dunklen Augen und Haaren, mit seiner leicht schnodderigen Art zu reden, wir, die am Ende der Party auf einer Couch lagen und knutschten, stundenlang. Tagelang überlegte ich nach unserer Trennung, ob meine Eltern oder Großeltern solche Momente wohl erlebt hatten. Und ich begann mich nach ihr, der hellen Schönheit Nike, mit ihrem griechischen Namen, zu sehnen, so wie sich meine Eltern nach ihrer vermeintlichen Heimat, ihren Geburtsorten gesehnt hatten, jahrelang, jahrzehntelang, bis sie mir hoffnungslos verkündeten, dass sie nun in Deutschland begraben werden, von ihren Enkelkindern, meinen Nichten und Neffen, diesen Deutschen, so wie wir alle zu Deutschen geworden sind. Nike und ich trafen uns wochenlang im Park und picknickten, in alternativen Tee-Läden, in denen wir »Berg-Tee« aus Griechenland tranken, den sie besonders mochte und was mich besonders zum Schmunzeln brachte, auf Partys von Freunden, die alle »so cool« und »so anders« waren, und außer Küssen und Schmusen lief nichts zwischen uns, wochenlang. Wahrscheinlich war dies der Grund, wieso ich mich nicht gebunden fühlte, im Gegensatz zu ihr. Doch ich fragte mich, ob sie nicht das Bedürfnis hatte weiterzugehen, wenn ich sie am Hals zärtlich küsste, dann mit meinem Mund weiter Richtung Ausschnitt hauchte und meine Zunge zum Liebkosen einsetzte. Umgekehrt konnte ich kaum an mich halten, wenn sie das bei mir tat, ständig war ich kurz davor, mich zu vergessen und ihr ihre Kleider vom Leib zu reißen, selbst wenn Leute um uns herum saßen. Doch sie wehrte das alles ab. Ich wollte sie Kätzchen nennen, so wie mein Vater in guten Momenten gataki zu meiner Mutter sagte, doch sie ohrfeigte mich für diesen Wunsch, leicht zwar, und auch nur einmalig, aber unmissverständlich. »Sicherlich möchtest du nicht Mäuschen genannt werden von mir, mein Freund!«, erwiderte sie, und ich dachte, wenn es gut läuft, wird mein Vater pontikaki von meiner Mutter genannt. Am liebsten beobachtete ich Nike, wenn sie mit anderen sprach, wie sie ihre Augen leicht zukniff, wenn sie konzentriert zuhörte, wie sie verständnisvoll nickte, wenn ihr Gegenüber ein Feedback erwartete, immer mit einem leichten Augenzucken, das man fast als Tick bezeichnen könnte, aber nur fast. Ich mochte auch, wie sie beim Ratgeben nervös an ihrem Ausschnitt nestelte, immer mit der Angst, vielleicht etwas Falsches zu sagen, das dann zu einer falschen Handlung führen könnte, sie, die immer Stellung bezog. Níki sprach ich ihren Namen aus, griechisch, ich, der das Griechische gerade ganz aus sich tilgen wollte, der, der nicht wusste, was »das Griechische« denn überhaupt sein sollte. Nike, meine Nike, die schon nicht mehr meine war, als ich sie die MEINE nennen wollte. Nike, die Siegesgöttin, die von Eltern aufgezogen worden war, die so ganz anders als meine Erzeuger waren, gebildet, mit Studium, akademischem Titel und einem guten, angesehenen Job. Wir blieben Freunde … so sagt man doch ganz klischeehaft nach so einem Versuch einer festen Beziehung, die nicht so recht klappen mag, doch ich versuchte es immer wieder bei ihr, ließ nicht locker.

Ich verschlief meinen eigenen Tod. Ich hörte diesen verdammten Wecker am Morgen nicht, müßig darüber zu urteilen, ob es Schicksal war, wie es Nike behauptete, oder purer Zufall. Zu spät aufgestanden, konnte ich es bei aller Eile nicht rechtzeitig an den Check-Inn schaffen, ich sah das Flugzeug gerade noch abheben, mit Tränen in den Augen, weil mich diese Reise ans Atlasgebirge in Marokko so viel Geld gekostet hatte. Dort wollte ich den Ort finden, an dem sich Nacht und Tag einander begegnen, wo Atlas das Himmelsgewölbe tragen und vor allem der Gott des Schlafes, Hypnos –der laut Hesiod, einem wichtigen griechischen antiken Dichter, der viel über die griechische Mythologie geschrieben hat – wohnen sollte. Hypnos war dank Nike, die mich zähneknirschend durch das Studium begleitete, aber immer darauf beharrte, dass sie nur nett sein wolle und ich mir nichts darauf einbilden sollte, der Forschungsgegenstand in meiner Magisterarbeit in Gräzistik. Damals, als ich ihnen meinen Studienwunsch mitteilte, hatten meine Eltern vor Stolz tagelang nicht schlafen können, hatten alle Verwandten angerufen. Sie konnten kaum wissen, dass ich einfach nur in der Nähe von Nike sein wollte, um sie weiter zu bezirzen, so lange, bis sie eingesehen haben würde, dass ich reifer geworden sei, dass ich sie bis an mein Lebensende lieben wollte, im Schlaf – aber vor allem in der wachen Zeit. Ihre Eltern hatten nicht ebensolche Luftsprünge gemacht, doch sie sagte ihnen, wer seiner Tochter den Namen einer Griechischen Gottheit gebe, dürfe sich über solcherlei Konsequenzen nicht wundern. Dieses Interesse für ihren eigenen Namen hatte ihr Lust auf mehr Mythengeschichten gemacht, so viel Lust, dass dies nun ihr Hauptinhalt im Studium werden solle. »Und deine Zukunft?«, riefen ihre Eltern, »Was möchtest du damit später anfangen?« Doch Nike zuckte nur die Schultern und siegte, wie immer, wie bei mir. Anfangs versuchte sie mir ihrerseits diesen Studienwunsch auszureden, ich hatte doch immer »dieses Griechische« verleugnen wollen, brachte sie mir entgegen, wie könne ich nun … und warum, das wäre doch alles nur, weil … Ihretwegen, ja, ihretwegen, sie vermutete natürlich richtig, auch wenn ich ihr das niemals gesagt hätte. Doch ich erwiderte niemals etwas, ich zuckte ebenso mit den Schultern, ich war nicht fähig, ihre Maus zu sein und ihr Paroli zu bieten. Ich meine eine Maus wie in meiner Lieblingscartoon-Serie »Tom und Jerry«, die ich auch als Erwachsener noch schaute. Nein, ich konnte ihr nicht, wie diese Zeichentrickfigur dem Kater Tom, Paroli bieten, ihr, die so klug, so gebildet, so belesen war, die mich mit ihren Worten wie ein Kindergartenkind dastehen lassen konnte. Als ich vom Flughafen zurückkehrte, legte ich mich erneut ins Bett, es war erst sieben Uhr morgens, viel zu früh, um den Tag tatsächlich zu beginnen. So lag ich in meinem Bett aus Ebenholz, wurde von meinem Radio mit den Zehn-Uhr-Nachrichten geweckt. Noch ganz benommen hörte ich die Meldung, dass das Flugzeug, das um halb sechs vom Frankfurter Flughafen in Richtung Marokko geflogen war, abgestürzt sei, alle Insassen und das Flugpersonal vermutlich tot, man habe noch keinen Anhaltspunkt, wie es zu diesem Flugzeugabsturz hatte kommen können. In der nächsten Minute rief mich Nike an. Sie war es, die mich von Hypnos, dem Gott des Schlafes überzeugt und zu dieser Reise gedrängt hatte, schließlich könne ich das ja wohl am besten von allem, schlafen, dann sollte ich mich auch damit beschäftigen. »Du hast verschlafen!«, schrie sie heraus. »Du hast verschlafen!« »Zufall!«, versuchte ich ihr entgegenzuhalten, doch die nächste halbe Stunde erzählte sie mir von ähnlichen Fällen, Koinzidenzen … Ich sagte ganz ruhig und langgedehnt: »Heiratest du mich?«

Danke / Ευχαριστω

»Vielleicht lächle ich«, sagte sie, »aber das ist Fassade: Wenn du in mein Herz blicken könntest, würdest du schwarzsehen. Es ist so schwarz wie die Lavastrände in Santorini«, fügte sie hinzu. Wie ein Vulkan konnte sie völlig unkontrolliert ausbrechen oder gar explodieren – meine Mutter. Sie war die theatralischste Person, die ich kenne, und ich bin wahrlich kein Eigenbrötler.

Eine typische Gastarbeiterkarriere. In den Sechzigerjahren nach Deutschland eingewandert. Nur für fünf Jahre, so der Plan damals. Ein bisschen Geld in der Fabrik verdienen, die Welt sehen, dann zurückkehren. Sie lernte einen Mann kennen. Aus Epirus. Andere Mentalität, sagt man. Sie ist aus Samos. Insulanerin. Samos: Wie der süße Wein. Dessertwein, leicht gespritet, die Reben vom Meltemi-Wind durchgelüftet.

Oft dachte ich über Zufall und Schicksal nach, als ich jünger war. Wie konnte es sein, dass sich zwei Griechen, aus völlig unterschiedlichen Gegenden, ausgerechnet in Deutschland in einem kleinen Kaff kennenlernten? In ihrer Heimat wären sie sich nie und nimmer begegnet. Aber in der Diaspora. Die Pläne wurden geändert: Sie lernten sich kennen und lieben. Sie noch unerfahrene siebzehn, er bereits Mitte zwanzig, nicht unerfahren, dafür sehr ruhig und gutmütig, sie war bald schwanger. Also erst einmal ein Kind kriegen, aber wenn es im Grundschulalter ist, müssten sie in die Heimat zurückkehren. Sie stritten sich: Nach Epirus ziehen, genauer nach Ioannina, sehr geprägt von den Osmanen, oder auf die wunderschöne Insel Samos, wo einst der berühmte Mathematiker Pythagoras lebte, Pythagorio heißt auch der Ort, aus dem meine Mutter stammt, das Dorf des Pythagoras?

Mein Cousin Nikos sagte: »Alles kommt aus Griechenland. Die Philosophie, die Politik, die Kunst, die Musik, die meisten Worte.« Wie in diesem Film. My Big Fat Greek Wedding. Ich schaute ihn mit meiner Freundin an. Alles kommt aus Griechenland. Auch die Orange! Die eigentlich aus China stammt, Apfel aus China, deswegen »appelsien«, Apfelsine, von den Niederländern genannt. Viele Running Gags, die allzu bekannt waren, also den Griechen, die im Kino saßen. Und es waren ein paar – meist Paare: Dem Partner oder der Partnerin die eigenen Wurzeln erklären, vielleicht auch den eigenen Bezug zu Griechenland herstellen. Über sich selbst lachen. »Muskacka«: Von den Mitschülern veräppelt werden, wie das Mädchen im Film, das in Tupper-Schüsseln Moussaka, die griechische Leibspeise, in die Schule mitbrachte. Bei mir war es Tsatsiki, wie ich oft genannt wurde, oder Feta, der Schafskäse, und bei besonders guter Laune der anderen: Der Schafzüchter aus Griechenland. Und genauso wie die Großmutter im Film, sagte meine Mutter, als ich als Kind vorschlug von Samos aus mit dem Boot nach Izmir zu fahren, ein Katzensprung nur, fast schon schwimmend erreichbar: »Ich setze keinen Fuß auf türkische Erde!«

Plan B. Das zweite und das dritte Kind folgten sogleich. Dann sollen sie erst einmal die Grundschule beenden, dann aber … nach Griechenland zurück. Es wird Zeit. In die Heimat. Zurückkehren. Es wurde immer weiter nach hinten verschoben. Jetzt noch das Gymnasium. Abitur. Bis die Kinder ihre eigenen Wurzeln geschlagen hatten. In Deutschland. Nicht in Griechenland. Ich möchte nicht unter einem fremden Himmel begraben werden, sagte meine Mutter, mein Vater nickte bedächtig. Doch den Absprung hatten sie nicht geschafft. Die Kinder fingen Ausbildungen an, studierten, selbst das vierte Kind war bald so weit.

Die Kinder, wir, wie sollten wir genannt werden? Deutsche mit griechischen Wurzeln, Deutsch-Griechen, griechische Deutsche? »Lernt Griechisch!«, wurden wir als Kinder getriezt. »Lern’ du doch richtig Deutsch, Mama!«, war meine Antwort. »Die Leute verstehen mich«, behauptete sie. Die Menschen aus Baden beherrschen die deutsche Grammatik oftmals ebenso wenig wie meine Mutter. Trotzdem. Die Eltern wurden zermürbt, zu Fall gebracht. Man spricht Deutsch – war dann die Regel zuhause. Die Hoffnung meiner Mutter sank weiter. Niemals wieder in die Heimat. Niemals.

Und dann das! Die ersten Partner der Kinder, etwas Ernstes. Heiraten? Aber doch keine Deutsche! Natürlich eine Deutsche, wir leben doch auch in Deutschland … Der berühmte Satz: »In meinem Herzen ist es schwarz. Ein deutsches Enkelkind.« Deutsch – und trotzdem Freude über den Nachwuchs, Oma-Freuden. Es lernte nie ihre Sprache, sein Spitzname trotz allem »Der Grieche«. Er war noch nie dort. Zum Thema: »Sohnemann« – also ich –, »wann fliegen wir wieder nach Griechenland?« »Ich? Nach Griechenland? Flieg’ doch alleine«, erwiderte ich. Sie weinte. »Im nächsten Jahr«, sagte ich. Sie konnte gut weinen. Leiden. Wenn sie krank war, und das war sie selten, einmal im Jahr für zwei Tage, »Unkraut vergeht nicht«, sagte sie, aber wenn … dann litt sie für fünf Menschen. »Mir ist so Elend«, alle paar Minuten skandierte sie das mit krächzender Stimme, und ich dachte mir: »Wenn mir so elend ist, dann kann ich nicht schwätzen.«

Griechen können gut feiern, heißt es. Mein Vater konnte es. Er starb. Und damit die ohnehin sehr eingeschränkte Feierlaune meiner Mutter. Niedergeschlagenheit. Melancholie. Manchmal Depressionen. Immer öfter Depressionen. Mit dem toten Mann reden. Sich nichts mehr wünschen. Nur eine Kleinigkeit …

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783955950026
ISBN (Paperback)
9783955950040
DOI
10.3239/9783955950026
Dateigröße
543 KB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Januar)
Schlagworte
Heimat Fremde Sprache Sehnsucht Wurzeln Integration Identität Griechenland TUBUK.digital
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Titel: Meine Mutter Griechenland
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